„Seiten Wechsel“: Düsseldorfer Autorin initiiert internationales Tagebuchprojekt
Wer greift schon noch zum Stift und führt Tagebuch? So wie einst die Dichter und Denker? So wie wir in vordigitalen Teenagertagen, als Bücher mit niedlichen Schlössern zu Geheimnisträgern wurden? Das Smartphone, dieser kleine Zeitkiller, lenkt uns einfach zu gründlich ab, weiß die Antwort, macht die Spielchen, kennt unzählige Geschichten. Wir alle sind dem Gerät verfallen und spüren doch ein Unbehagen. Dagegen gibt es jetzt den „Seiten Wechsel“, ein Buch aus dem Wortschau Verlag, in dem sechs internationale Autor*innen ihre Geschichten von sieben festgelegten Tagen erzählen.
Typisch Johanna Hansen. Unbeirrbar folgt sie ihrer Kunst, dem kreativen Gedanken. Die 1955 am Niederrhein geborene Düsseldorferin ist preisgekrönte Lyrikern, Malerin und Herausgeberin des literarischen Magazins „Wortschau“. Und sie knüpft ein tragfähiges poetisches Netzwerk, lässt Verbindungen nicht abreißen – zum Beispiel zu dem amerikanischen Kollegen David Oates, den sie im Rahmen eines Stipendiums in der Pariser Cité Internationale des Arts kennenlernte, oder zu der lettischen Autorin Gundega Repše, der sie im Schriftstellerhaus von Ventspils begegnete.
Abschied und Sehnsucht
Beide beteiligten sich mit Begeisterung an dem Projekt „Seiten Wechsel“, spürten an bestimmten Tagen emotionalen Themen wie „Glück“, „Kälte“, „Abschied“ und „Sehnsucht“ nach. In einem roten Taschenbuch, 200 Seiten dick, offenbaren sich die verschiedenen Welten, und es beginnt am 1. Juli 2019, „frühmorgens in Barcelona in der alten Schmiede“, wo die aus Stuttgart stammende Autorin Kathrin Schadt lebt und ihre heiße Milch trinkt, mit „una lagrima“, einer Träne, einem Schuss Kaffee. Wie immer stört sie das Gekreische von Tapatoc, ihrem Mönchssittich mit den gestutzten Flügeln, den sie zwei Jahre zuvor auf dem Hügel Montjuïc fand, ausgesetzt. Ein anderes Tier inspiriert sie dann zu einem Gedicht. Ein Wal, der in einer hohen Frequenz singt, die ihn zum Außenseiter macht: „ich atme aus 52 hertzen / auf meinem spektrum tanz nur ich …“.
Gundega Repše versetzt uns derweil nach Südlettland: „Ein zartrosa Morgennebel. Silberne Kornfelder. Ein Hirsch röhrt ganz nah.“ Doch die Idylle täuscht. Die Schriftstellerin fährt nach Riga, um im Archiv für die Folgen des Totalitarismus herauszufinden, dass ihr erster Ehemann sie im Auftrag der Staatssicherheit bespitzelt hat: „Mein Kopfschmerzen lassen nicht nach.“ Johanna Hansen beobachtet am selben Tag die „Mauersegler im Juliblau“ über ihrem Hinterhof, wo die Hortensien blühen. Sie kauft Aprikosen, um Marillenknödel zu machen, nach einem Wiener Rezept ihrer Tante, die einst mit Motorrad und Slingpumps die niederrheinische Kleinstadt provozierte. Es passiert nichts Dramatisches im Laufe des Tages, an dem die Autorin ihre Absichten formuliert: „Möchte mich austauschen jenseits der Mauern, die nicht nur in den Köpfen bereits vielerorts wieder entstehen.“
Tage des Abstands
Am Heiligabend 2019 erzählt der Amerikaner David Oates in Portland von einer turbulenten Christmas-Party bei Freunden, mit Klavierspiel, kreischenden Kindern , Waffeln mit Ahornsirup. Er sehnt sich nach Ruhe. Die gibt es dann überreichlich – in der Pandemie, die folgt mit ihren Lockdowns. „In den Regionen stoffbezogener Münder zwischen Abstandsregeln und Weltbeschreibungen Platz zu lassen für Nähe, ist nicht leicht“, schreibt Johanna Hansen im Mai 2020. David Eisermann, Schriftgelehrter aus dem Rheinland, plant ein Zoom-Meeting mit Studenten und diskutiert auf einer Lokalterrasse mit Freunden über Hegel, nicht ohne sich vorher in eine Nachverfolgungs-Liste einzutragen (heute schon fast vergessen).
Kälte und Hoffnung
Im Dezember 2020 bangt Gundega Repše in Lettland um ihren Corona-infizierten Mann, mit dem sie streitet, aus Angst. Die Beziehungen sind vergiftet, Verunsicherung stört den Stolz der Dichter. James Hopkins, ein ehemaliger Investmentmakler aus Washington, lebt als Autor und Sinnsucher in Kathmandu, der Stadt, die in der Morgendämmerung „von Mungos und von Milch trinkenden Schlangen träumt“. Ein Schwarm von Krähen stört den Versuch einer Meditation. Hopkins friert und fühlt sich wie in der „kalten Hölle der klappernden Zähne“, die den Buddhisten droht. Die sinnlichen Vorgänge gelingen besser, es gibt eine „Kellnerin“, die in blauen Biberbettüchern schläft und in der Ferne eine „Kalifornierin“, mit der er sich zum virtuellen Sex verabredet.
Es ist alles ungewiss, auch das Überleben. Im Juli 2022 zieht sich die Pandemie langsam zurück, dafür gibt es einen Krieg in der Ukraine. Johanna Hansen lässt einen Keramik-Engel, dem beim Brennen die Flügel abgefallen waren, in Bronze gießen. Beschädigt. Doch Symbol der Hoffnung.
Informationen
„Seiten Wechsel“, Tagebuchnotizen von (teilweise ins Deutsche übersetzten) Texten von sechs internationalen Autor*innen, herausgegeben von Johanna Hansen und Wolfgang Allinger, erscheint im Wortschau Verlag. 200 Seiten, broschiert, mit Schwarzweiß-Fotos. 16 Euro. ISBN 978-3-944286-39-6. www.wortschau.com
Nebenbei bemerkt: Das poetisch-malerische Atelier von Johanna Hansen an der Düsselstraße 21 ist im Rahmen der Kunstpunkte geöffnet. Samstag, 19. August, 14 bis 20 Uhr, Sonntag, 20. August, 12 bis 18 Uhr. www.johannahansen.de