Das Leben der Anderen: Fotografie von Evelyn Richter im Kunstpalast Düsseldorf
Nein, sie war keine Widerstandskämpferin, wurde nicht verhaftet oder ausgewiesen. Die sächsische Fotografin Evelyn Richter (1930-2021) hatte sich mit dem System DDR arrangiert. Sie arbeitete für staatstreue Zeitschriften wie „Freie Welt“ und „Neues Leben“, lehrte an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB), durfte offiziell reisen. Aber sie verweigerte sich dem Pathos der Propaganda. In strengem Schwarz-Weiß, ohne große Emotionen, dokumentierte sie das Leben, die Kunst und die Arbeit im sozialistischen Teil Deutschlands. Es lohnt sich, dafür den Blick zu öffnen – im Düsseldorfer Kunstpalast.
Gerade hier, am westlichsten Rand der alten Bundesrepublik mit seinem lockeren Lifestyle, sollte man, meint Museumsdirektor Felix Krämer, unbedingt mal „nach Osten schauen“. Dorthin, wo die Dinge nach dem Krieg so viel trüber und komplizierter waren. Der Name Evelyn Richter, in Leipzig prominent, ist hier kaum bekannt. Das wird sich ändern. Um das Publikum zu locken, verkauft der Kunstpalast nur Kombi-Tickets. Wer zur populären Schau über den Weltstar Christo geht („Grenzenlos“), kann kostenfrei auch die Fotografie im Erdgeschoss ansehen. Und wird das interessant finden. Nicht ohne Grund wurde die hochbetagte Evelyn Richter vor zwei Jahren für ihre künstlerischen Serien mit dem ersten Bernd- und Hilla-Becher-Preis der Stadt Düsseldorf ausgezeichnet.
Nicht bewerten, nur sehen
In handbeschrifteten Kartons hatte sie ihre Negative, Kontaktstreifen und Abzüge aufbewahrt. Eine Fülle von Material. Die Düsseldorfer Fotoexpertin Linda Conze und ihre Kollegin Jeannette Stoschek vom kooperierenden Leipziger Museum der bildenden Künste haben es sortiert und prägnante Beispiele ausgesucht. Die von Conze kuratierte Düsseldorfer Ausstellung führt mit 150 gerahmten, reizvoll angeordneten Fotografien und etlichen Publikationen durch Richters Themenwelten. Einige auf Wallpaper gedruckte wandhohe Bilder markieren die Bereiche und geben Atmosphäre. So läuft man gleich am Eingang auf einen „Softeis“-Kiosk zu. Im Hintergrund: ein typischer DDR-Plattenbau. Zwischen rechts und links geschlossenen Schlagläden stützt sich die Verkäuferin aufs leere Fensterbrett und wartet – auf Ware, Kundschaft, bessere Zeiten? Man weiß es nicht.
Evelyn Richter bewertete die Zustände nicht. Sie fotografierte einfach, wie sie es in der Ausbildung im Atelier des Dresdners Pan Walther und bei einem aus unbekannten Gründen abgebrochenen Studium an der HGB gelernt hatte. So ganz artig und angepasst war sie dort wohl nicht. Neben klassischen Porträts von Kommilitonen hängt ein verrücktes Selbstporträt als vermummte „Menschmaschine“ mit Röhrenhut, das die 22-Jährige 1952 am Institut für technische Mechanik der TU Dresden inszeniert hatte.
Die Gesichter der Arbeit
Gewöhnlich war Evelyn Richter nicht zu bildnerischen Scherzen aufgelegt. 1957, als sie anlässlich eines Fotowettbewerbs in die Sowjetunion reisen durfte, zeigte sich schon ihr ernsthaftes Interesse am einzelnen Menschen in einer Menge. In Minsk, der Hauptstadt des heutigen Belarus, hielt sie bei einer unbenannten Versammlung die angespannten Gesichter von Arbeiterinnen mit Kopftüchern und Männern mit Schirmkappen fest. In Moskau fotografierte sie die Besucher in der Tretjakow-Galerie und die uniformierten Mitglieder einer Blaskapelle. Nur einer davon hatte sie bemerkt und schaut uns direkt an.
Weil ihre große Kamera auf der Reise kaputt ging, benutzte Evelyn Richter einen Kleinbildapparat – und blieb dabei. Mit dem unkomplizierten Gerät konnte sie viel spontaner arbeiten. „Das war für mich ein entscheidendes, fast könnte man sagen, ein umwerfendes Erlebnis“, so wird sie zitiert. Sie hatte künftig immer ihre kleine Kamera dabei. Damit machte sie unauffällig und verbotenerweise auch einige Schnappschüsse von Panzersperren und irritierten Menschen in Berlin, als am 13. August 1961 der Mauerbau begann. Auch 1989 würde sie wieder fotografieren, die protestierenden Menschen auf der Straße, die Versammlungen in der Nikolai-Kirche.
Stille Momentaufnahmen
Ihre Bilder beziehen keine Stellung. Sie zeigen nur die Realität. Bei einer ritualisierten Kundgebung zum 1. Mai 1960 reckt eine ältere Frau mit Kapotthut und Rosa-Luxemburg-Plakat jubelnd den Arm, ein älterer Mann beugt angestrengt den Rücken unter dem Gewicht einer Fahne. Richter sieht einfach hin und hält fest, was sie sieht. Zum Beispiel die nicht sehr weit Reisenden in Straßenbahnen und Zügen. Wie sie dasitzen, träumend, dösend, lesend, schweigend. Ein Pärchen umarmt sich müde. Ein junger Mann mit Bierflasche hat sich in eine Fahne eingewickelt, vielleicht ist ihm kalt. Die Bilder wahren ihr Geheimnis.
Das gilt auch für die zahlreichen Arbeitsszenen, die Evelyn Richter für Zeitschriften festgehalten hat. Als Bildreporterin auf der Spur von Frauen, die sich in Fabriken abrackern und engagieren. Die Ausstellung behauptet, dass die Fotografin anstelle des kraftvollen Ideals im sozialistischen Realismus „Erschöpfung und Skepsis“ eingefangen habe. Das stimmt so nicht. Was die Frauen hinter Garnspulen und undefinierbaren Maschinen ausstrahlen, ist eher Ernst und Konzentration, gepaart mit einer leichten Melancholie. Das Gleiche gilt für die Musiker und Künstler, die Evelyn Richter für Plattenhüllen und Kataloge porträtierte. Und sogar für die Kinder, die sie 1980 für ein Bestseller-Buch über das „Entwicklungswunder Mensch“ fotografierte. Kein Bild wirkt unbefangen.
Was, wann und wo
„Evelyn Richter“, Schwarz-Weiß-Fotografie. Bis 8. Januar 2023 im Kunstpalast Düsseldorf, Ehrenhof 4-5. Geöffnet Di.-So. 11 bis 18 Uhr, Do. bis 21 Uhr. Der mit besonderer Ästhetik gestaltete und in Leinen gefasste Katalog aus dem Leipziger Verlag Spector Books kostet im Museum nur 29,90 Euro (Buchhandel: 42 Euro). Das Ticket kostet 12 Euro und gilt auch für die Christo-Ausstellung im selben Haus. www.kunstpalast.de