Schauspiel Düsseldorf tanzt und träumt in den Herbst: „Hyperreal“
So richtig verlockend klingt das ja nicht: „Hyperreal – Eine dystopische Science-Fiction-Komödie“. Pardon? Nur Old-School-Bildungsbürger oder Google wissen, dass Hyperrealität ein Begriff des 2007 verstorbenen französischen Philosophen Jean Baudrillard für eine Welt der beziehungslosen Zeichen ist, und dass die Dystopie im Gegensatz zur Utopie eine verdammt miese Vorstellung von der Zukunft beschwört. Aber keine Bange: Trotz einiger intellektueller Verrenkungen tanzt, singt und lacht das Stück der Regisseurin und Choreografin Constanza Macras, dass es eine Lust ist, und reflektiert dabei unser aller Gegenwart.
Maskenblues im Foyer des Schauspielhauses: Wer etwas trinken will, darf an den Tischen und im Sitzen das Gesicht freimachen. Foto: Birgit Kölgen
Nach einem halben Jahr Zwangspause darf die Show weitergehen – natürlich unter furchtbar hygienischen Bedingungen. Ohne Maske kein Zutritt, es gibt keine Pausen, nicht mal eine Brezel an der Bar. Man darf sich aber mit einem Gläschen setzen und ein bisschen Luft schnappen, bis der Gong ertönt. Im Großen Haus ist jede zweite Reihe mit Paketband abgesperrt, zwischen einzelnen Zuschauern oder zusammengehörenden Menschen werden jeweils zwei Plätze freigelassen – ein Häuflein verteilt sich also in Hall und Saal. Aber egal: „Das Herz beginnt wieder zu schlagen“, freut sich Intendant Wilfried Schulz bei der Premiere.
Lückenhaft: Im Großen Haus ist jede zweite Reihe abgesperrt, zwischen zusammengehörenden Zuschauern werden jeweils zwei Plätze freigelassen. Foto: Birgit Kölgen
Der Atem der Anderen
Wie Schulz ebenfalls bemerkte, freut er sich über jeden, der auch während der Vorstellung die Maske aufbehält. Das ist allerdings den meisten zu anstrengend, mir auch. Auf der Bühne herrscht ohnehin die größtmögliche Freiheit. Das vitale Ensemble aus singenden Tänzern und Schauspielern bewegt sich unaufhörlich, schwitzt und verbreitet Aerosole, die hoffentlich nichts Böses enthalten. Das verdrängen wir jetzt mal und konzentrieren uns auf das, was wir so schmerzlich vermisst haben: Theater mit Leib und Seele und dem Atem der Anderen. Kein virtuelles Experiment kann das je ersetzen.
Wir sehen einen schönen nachtblauen Raum mit Freitreppe, Galerien und Gingko-Muster-Tapete – eine Hotellobby vielleicht oder eine schicke Event-Location (Bühnenbild: Alissa Kohlbusch). Die Kulisse dreht sich immer wieder, nichts steht fest. Rechts sitzt eine kleine Band, wie für ein Fest. Die vermeintlichen Gäste tragen Glitzerfummel und ziehen sich im Laufe der nächsten zwei Stunden so oft um wie Kinder auf einer verrückten Verkleidungsparty (Kostüme: Jenny Theisen). Aber sie sind nicht frei, sie sind Eingesperrte, ihren Gefühlen und Sehnsüchten ausgeliefert, manchmal gehen sie die Wände hoch. Auch die Musik (Santiago Blaum) wechselt zwischen den Stimmungen.
Anna-Sophie Friedmann, Serkan Kaya, Kilian Ponert, Adaya Berkovich, Sebastian Tessenow und Thulani Lord Mgidi, Foto: Thomas Rabsch
Hinein ins Lockdown-Feeling
Zunächst gurrt, surrt, quietscht und dröhnt es. Dazu bewegt sich das Ensemble ruckartig, defekte mechanische Puppen. Dann gibt es einen witzigen Song mit Reimen auf Quarantäne – Schwäne, Hygiene, Migräne, „es schmerzt den ganzen Tag“, und wir sind mitten im Lockdown-Feeling, das wir alle kennen. Mit der Truppe zusammen hat die in Brasilien geborene und in Berlin lebende Theatermacherin Constanza Macras die kollektiven Erfahrungen in eine schmissige Nummernrevue verwandelt. Es geht um Isolation, irre Sportprogramme, geistige Abstumpfung, wahnwitzige Bestellungen im Internet. Anna-Sophie Friedmann erzählt von absurden Diät-Versuchen, Serkan Kaya von Ehefrust und Home-Schooling und die entzückende rothaarige Tänzerin Adaya Berkovich vom gescheiterten Versuch, einen Zoom-Kurs zu veranstalten. Auch virtuelles Plaudern und Online-Trinken bringt keine Nähe, wie die Japanerin Miki Shoji weiß.
Wie im wirklichen Leben hängt man gelegentlich nur auf dem Sofa rum, lässt sich gehen und hört alte Lieblingssongs. Oder man sagt in der alltäglichen One-Man-Show mit gestelztem Ernst die Texte auf: „Lonely, I’m so lonely, I feel low, I feel so“ und „Wish you were here“. Yeah, da kann jeder mitfühlen, genau wie beim akrobatischen Kampf um die Zustellung von Paketen, die wir bestellen, weil die raffinierten Algorithmen der Online-Werbung unsere Bedürfnisse schüren. Friederike Wagner mimt eine Lady, die sich aus Einsamkeit ein Pferd gekauft hat und schier durchdreht, weil das passende Reiter-Zubehör nicht kommt.
Anna-Sophie Friedmann, Miki Shoji, Adaya Berkovich und Kilian Ponert, Foto: Thomas Rabsch
Hoffnungslos, aber gut gelaunt
Aber im Lockdown war ja nicht alles blöde, der Mensch rang auch um Bedeutung und suchte nach passender Literatur. Deshalb wird recht ausführlich „Schöne neue Welt“ nacherzählt, Aldous Huxleys 1932 erschienener dystopischer (!) Roman über eine Zukunftsgesellschaft, in der die Menschen nach Bedarf gezüchtet und in Kasten eingeteilt werden – von den Alphas, der angepassten geistigen Elite, bis zu den tumb gehaltenen Arbeitssklaven, den Epsilons. Doch ehe ein Seminar daraus wird, gibt es wieder Musik.
Die Lage ist hoffnungslos, die Götter im vorletzten Mummenschanz wissen auch nicht weiter. Schließlich werden alle von einer lila verkleideten Madame Tod geholt, aber die Laune in dieser Produktion bleibt zum Glück immer locker. „This is the End“ heißt es schrecklich lustig wie in dem 2013 gedrehten Apokalypse-Film von Rogen/Goldberg, und alle tanzen nochmal heftig zum Disco-Sound. Die Zuschauer klatschen heftig, ziehen die Maske wieder vors Gesicht und hoffen auf das Beste.
Anna-Sophie Friedmann, Miki Shoji, Minna Wündrich, Adaya Berkovich und Sebastian Tessenow, Foto: Thomas Rabsch
Informationen:
Die nächsten beiden Vorstellungen von „Hyperreal“ sind ausverkauft, für den 27. September gibt es Restkarten. Tickets für die drei Vorstellungen im Oktober (9., 22. und 23. 10.) können online gebucht werden. www.dhaus.de