Digitale Uraufführung: „Liebe Kitty“ im Jungen Schauspiel Düsseldorf
Noch fünf Minuten – der Countdown auf der Website läuft. Schnell was zu trinken holen, gemütlich machen. Theater im Netz, das hat auch Vorteile. Keine Anfahrt, keine Maske, Logenplatz auf dem Sofa. Aber: Das Gefühl stimmt nicht, man bleibt seltsam abgetrennt. Am Abend der eigentlich geplanten Premiere hat das Junge Schauspiel das neue Anne-Frank-Drama „Liebe Kitty“ für die ganze Familie als digitale Voraufführung gestreamt. Das Ensemble spielt unter der Regie von Jan Gehler tapfer ins Leere, ohne den Atem des Publikums, ohne Reaktionen und Applaus. Eine Notlösung, die allen Respekt verdient.
Theater auf dem Bildschirm: digitale Voraufführung des Anne-Frank-Dramas „Liebe Kitty“ mit (von links): Ron Iyamu, Ali Aykar, Felicia Chin-Malenski, Natalie Hanslik und Eduard Lind.
Dank drei wechselnden Kameras und Live-Bild-Regie entsteht immerhin eine Ahnung des wahren Erlebnisses. Nicht nur die ganze Szene und der Bühnenrand sind zu sehen, auch die Gesichter der fünf Ensemble-Mitglieder kommen uns gelegentlich nah. Dennoch bleibt es ein Film, der in seiner Reduktion keine Chance hat gegen all die herzzerreißenden Kino- und Fernsehproduktionen, die seit George Stevens oscar-gekröntem Hollywood-Melodram von 1959 auf der Grundlage des Tagebuchs von Anne Frank in die Welt gesetzt wurden.
Zwei Jahre Hoffen und Bangen
Jede(r) hat von Anne Franks Geschichte gehört, aber sie kann nicht oft genug erzählt werden. Zum 13. Geburtstag am 20. Juni 1942 hatte der Unternehmer Otto Frank seiner jüngeren Tochter jenes rot-weiß karierte Notizbuch geschenkt, das sie „Kitty“ nannte wie eine imaginäre Freundin. Schon 1934 war die aus Frankfurt stammende jüdische Familie vor den Nazis in die Niederlande geflohen. Die Bedrohung marschierte hinterdrein. Im Juli 1942 versteckten sich die Franks im „Achterhuis“ hinter Franks Firma an der Prinsengracht, eine zweite Familie und ein einzelner Herr kamen noch hinzu.
Franks loyale Belegschaft versorgte die Versteckten. Ein Bücherregal verdeckte den Eingang. Man lebte in drangvoller Enge, wo sich die heranwachsende Anne mit Hilfe ihres Tagebuchs behauptete. Heimlich träumte sie davon, eine berühmte Schriftstellerin zu werden und überarbeitete ihre Notizen sogar noch einmal, um einen Roman daraus zu machen – kurz, bevor das Versteck im August 1944 aus ungeklärten Gründen verraten wurde. Nach zwei Jahren Hoffen und Bangen starben Anne, ihre Schwester und ihre Mutter kurz vor Kriegsende in verschiedenen KZs an Hunger, Erschöpfung und Krankheiten. Der Vater Otto überlebte als einziger und veröffentlichte das zurückgelassene Tagebuch des Kindes.
Die Dunkelheit spielt mit
Kein menschliches Zeugnis des Holocaust ist wohl so stark verbreitet worden. Das liegt vielleicht daran, dass das unsagbar Schreckliche nicht überwiegt. Frech und gewitzt berichtet die kleine Anne von einem ganz normalen Teenager-Leben. Da geht es zwar auch um die große Angst, aber vor allem ums Zanken mit der Mutter, ums Schmusen mit dem ebenfalls versteckten Knaben Peter, um die blöden Bohnengerichte, die ungerechte Schimpfe und andere Pubertätsdramen. Das tödliche Ende macht sich nur dezent bemerkbar wie die Geräusche und Gerüchte aus dem Vorderhaus.
Regisseur Jan Gehler und Ausstatter Ansgar Prüwer versuchen gar nicht erst, ein realistisches Szenario zu erschaffen. Auf dunkler Bühne wird mit acht Stühlen und einem alten Radio gespielt, manchmal wird Text projiziert, sonst ist da nichts. Drei Männer und zwei Frauen (die dritte, Eva-Maria Schindele, ist derzeit in Quarantäne) sprechen die Texte der Anne Frank abwechselnd oder im Chor. Es gibt keine Hauptheldin, wir sollen verstehen, dass sich alle jungen Menschen mit der eingeschlossenen Anne identifizieren können – wobei man sie natürlich eher in den Mädels sieht: Natalie Hanslik und Felicia Chin-Malenski.
Die große Frage an alle
Sie geben der verlorenen Anne kurz Gestalt und Stimme, können aber auch blitzschnell die Tonlage verändern und eine der zickigen Damen in der Versteckgemeinschaft sein. Ihre Gesten gehen dabei ins Leere. Alles wird nur pantomimisch angedeutet: das Essen, Aufräumen, Katze Streicheln. Nichts ist greifbar, alles schon verloren, bevor in der letzten Szene plötzlich das Licht ausgeht, mitten in einem Gesellschaftsspiel. Ein Song kurz vor Schluss fragt das Publikum: „Would you hide me?“, würdest du mich verstecken? Sollte das Publikum im Dezember tatsächlich kommen dürfen, wird es sicher sehr berührt sein.
Neue Chance im Dezember
Bisher geht das Schauspielhaus davon aus, dass die Schließung am 30. November beendet wird. Karten für „Liebe Kitty“ im Jungen Schauspiel an der Münsterstr. 446 können gebucht werden. Für den 1., 2. und 22. Dezember sind morgendliche Vorstellungen um 9.30 Uhr geplant. Am 26. Dezember, 16 Uhr, lädt die Antisemitismusbeauftragte des Landes NRW zu einer kostenlosen Vorstellung ein. Einen Video-Trailer gibt es auf www.dhaus.de