Geträumt: „Hoffmanns Erzählungen“ in der Rheinoper Düsseldorf

Jacques Offenbach ahnte es: „Ich werde bestimmt sterben mit einer Melodie an der Spitze meiner Feder.“ Tatsächlich starb der in Köln geborene und in Paris gefeierte Komponist im Herbst 1880 während der Arbeit an seiner Oper „Hoffmanns Erzählungen“. Sein größtes Werk war noch nicht ganz fertig, wurde für die postume Uraufführung im Februar 1881 von Offenbachs Assistent Guiraud ergänzt, später oft verändert, gekürzt, anders geträumt. Und begeistert gespielt. Denn das Unvollendete ist ja oft das Schönste, offen für Sehnsucht und Fantasie. In der Rheinoper gibt es jetzt eine neue Version, geschaffen von vier verschiedenen Regie-Teams. Eine Traumreise mit hinreißender Musik.
Vier verschiedene Konzepte? Aufgeteilt nach Akten? Das könnte ein Stückwerk werden. Aber nein! Die Übergänge sind fließend. Der junge Regisseur Tobias Ribitzki bereitet mit der Rahmenhandlung vor einem roten Vorhang die Bühne für die surrealen Liebesgeschichten des Romantikers E.T.A. Hoffmann. Was braucht ein Dichter anders als Tisch, Stuhl, Feder, Papier – und ein Glas Wein? Ribitzki verzichtet auf den üblichen Aufbau einer Kneipenszene, die Trinkkumpane sind ein Chor äußerer Stimmen, aus der fordernden Welt da draußen. Hoffmann, gesungen von dem gut aussehenden rumänischen Tenor Ovidiu Purcel, bleibt ein einsamer Mann, umgarnt nur von seiner Muse, die immer bei ihm bleibt, sich diskret verwandelnd. Die russische Mezzosopranistin Maria Kataeva mit ihrem warmen vollen Mezzosopran bekommt am Ende die meisten Bravo-Rufe.

Der Dichter und seine Muse: Ovidiu Purcel als Hoffmann und Kimberley Boettger-Soller. In der Premiere sang Maria Kataeva die Partie der Muse. Foto: Barbara Aumüller / Deutsche Oper am Rhein
Falsche Liebe
Und während Hoffmann die Possengeschichte von Klein-Zack erzählt, übermannt ihn die Erinnerung an seine drei Angebeteten: unheimliche Geschichten, inspiriert von Gestalten, die der historische Hoffmann (1776-1822) erfand. Der Vorhang hebt sich, und das Auge nähert sich dem Haus des Physikers Spalanzani, der eine lebensechte Puppe als seine Tochter präsentiert: Olympia, deren berühmte Arie von Vöglein und Amour ebenso zauberhaft wie abgehackt klingt. Doch Hoffmann, verblendet von einer Brille des Finsterlings Coppelius (in wechselnden bösen Rollen profiliert sich der Bass Bogdan Taloş), sieht nicht, dass er einen Automaten anschwärmt.
Paul Barritt und Esme Appleton vom britischen Kollektiv „1927“, die schon Mozarts „Zauberflöte“ in einen Projektionsrausch verwandelt haben, arbeiten wieder witzig und blitzschnell mit der Magie der Stummfilmzeit. Sie lassen wie im alten Kintopp die Herzchen, Pfeile, Wörter fliegen und machen die Olympia zur kuriosen Trickfigur, der die spanische Sopranistin Elena Sancho Pereg den schönen Kopf hinhält.
Ernste Puppen

Der Sänger leiht der Puppe seine Stimme: Bogdan Taloş (stehend) mit der Figur des Dr. Miracle, geschaffen von Neville Tranter. Foto: Barbara Aumüller / Deutsche Oper am Rhein
Es geht skurril weiter: Die todkranke Sängerin Antonia, mit schwebender Zartheit gesungen von Darija Auguštan, erscheint zwischen Klappmaulpuppen. Denn diese lustigen Gesellen sind in der Lage, sich hoch aufzurichten und, weiß der erfahrene australische Figurentheatermacher Neville Tranter, „auch ernsthafte Rollen zu verkörpern“. Solche wie den bekümmerten Vater Antonias (Thorsten Grümbel), dessen ulkigen Diener Franz (Andrés Sulbarán) und den gruseligen Dr. Miracle (wieder Bogdan Taloş). Alle drei Sänger schaffen es mühelos, mit Hilfe von Statisten auch die lebensgroßen, expressiv gestalteten Figuren synchron zum Gesang zu führen.
Ein kleines blaues Klappmaul-Männlein, das stumm und zitternd das fatale Geschehen verfolgt, gibt indes Rätsel auf. Es ist, entnimmt man dem Programmheft, eine von Tranter erfundene Zusatzfigur, der buckelige Min, den niemand beachtet, obwohl er der einzige sein soll, „der Antonia wahrhaftig liebt“. Süß – was man von dem bärtigen Klappmaul-Gespenst, das zur Stimme der verstorbenen Mutter auftritt, nicht sagen kann. Da wäre weniger mehr gewesen. Der pure Ton hätte eher Rührung erzeugt.
Tanzender Chor

In tänzerischer Bewegung: Giulietta-Szene mit der Solistin Sarah Ferede (im Glitzerkleid) und dem Opernchor. Foto: Barbara Aumüller / Deutsche Oper am Rhein
Pause. Das Publikum, angeregt plaudernd, gönnt sich ein Gläschen, dann geht es weiter mit Hoffmanns schwelgerischen Erzählungen. Der Akt um die Kurtisane Giulietta (glitzernd: Sarah Ferede) spielt in einem magischen Venedig, wo Taloş als teuflischer Dapertutto die Seelen von Männern in Form von Schatten und Spiegelbildern einfängt. Auf Gondeln und Palazzi wird verzichtet. Die niederländische Choreographin Nanine Linning inszeniert „immer vom Körper ausgehend“. Gesten, Schritte sind alles. Und so wiegt sich der blau gekleidete Chor zur berühmten Barcarole („Schöne Nacht, du Liebesnacht“) in Wellenbewegungen – wie die Flut in der Lagune.
Ohne Unterlass müssen die Männer und Frauen anmutige Leibesübungen zeigen und tanzend ein sperriges Spiegelkabinett herumdrehen. Das ist eine tolle Idee, allerdings wird ein Opernchor nicht durch Willenskraft zur Ballettcompagnie. Gewisse Steifheiten sind nicht zu übersehen. Aber die Musik, dirigiert von Frédéric Chaslin, betört das Publikum ganz und gar. Und am Ende, wenn alle unter einem stürzenden Vorhang stehen und singen, gibt es Gänsehaut-Gefühle: „On est grand par l’amour et plus grand par les pleurs.“ Man ist groß durch die Liebe und größer durch die Tränen.

Großes Ensemble, begeisterter Applaus: Sänger*innen und Puppen aus “Hoffmanns Erzählungen” werden in der Rheinoper gefeiert. Foto: bikö
Und weiter geht es:
Die nächsten Vorstellungen von Jacques Offenbachs Oper „Hoffmanns Erzählungen“ in der Regie von Tobias Ribitzki, Neville Tranter, Nanine Linning und dem Kollektiv „1927“ sind am 16., 19., 23. und 27. April sowie am 4. Mai im Opernhaus Düsseldorf (Heinrich-Heine-Allee). Eine Koproduktion mit der Oper Graz. Sprache: Französisch mit deutschen Übertiteln. Aufführungsdauer etwa dreieinhalb Stunden, eine Pause. www.operamrhein.de