Mazel tov! „Anatevka“ an der Rheinoper Düsseldorf
Ach, „Anatevka“? Passt das in diese Zeiten neuer Weltkrisen? Ein Musical über ein jüdisches Schtetl irgendwo im zaristischen Russland? Wo sich der Milchmann Tevje mit Humor durchs Leben schlägt, für sein Weib Golde und fünf Töchter sorgt, die Bibel zitiert und mit dem Herrgott verhandelt? „Wenn ich einmal reich wäre …“ ist der Superhit aus dem amerikanischen Herzensstück, das in den 1960er-Jahren vom Broadway über London nach Deutschland kam und ungeheuer erfolgreich war. Und yes, man kann es spielen! Es ist immer noch rührend und lustig und traurig und lehrreich. Das zeigt die Inszenierung des jungen Regisseurs Felix Seiler an der Düsseldorfer Rheinoper.
Die Aufführung konstruiert keine krampfhaften Bezüge zur Gegenwart, sondern bleibt in der historischen Situation: Wir haben das Jahr 1905. Es gibt immer wieder Pogrome, aber noch keinen Holocaust und noch keinen Staat Israel, nur einen Traum vom Heiligen Land. Anatevka ist die einzig bekannte Heimat für Tevje und seine jüdische Gemeinde. Dort wohnen, zanken und feiern sie vergnügt. Nicht mehr lange. Das sieht man schon am Bühnenbild. Statt die üblichen Chagall-Häuschen zu bauen, hat Nikolaus Webern nur mit Stoff gearbeitet: Laken an der Wäscheleine ergeben flatternde Wände, die keinen Schutz bieten. Tatsächlich werden die jüdischen Bürger des Dorfs am Ende von der russischen Obrigkeit vertrieben. Ohne Grund, einfach so.
Singende Geige
„Fiddler on the Roof“ ist der Originaltitel. In Düsseldorf schwebt der Fiedler auf dem Dach in einer bodenlosen Dunkelheit. Die Geige (übrigens von einer jungen Frau, Annika Franke gespielt) wird zwischendurch bei einem willkürlichen Überfall auf ein Hochzeitsfest zerstört. Aber nicht für immer. Ihr Lied geht weiter wie das Leben. Tevje zieht mit Frau und zwei verbliebenen Töchtern nach Amerika, ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten, wo Joseph Stein, Jerry Bock und Sheldon Harnick, Söhne jüdischer Migranten, vor ziemlich genau 60 Jahren aus Scholem Alejchems Erzählung „Tevje, der Milchmann“ eine Show machten.
Neben der von Swing und Klezmer beschwingten, von Harry Ogg mit Schmiss dirigierten Musik („Zum Wohl, zum Wohl, l’chaim!“) ist der jüdische Witz ein wichtiger Faktor für den Erfolg des Stücks. „Lieber Gott, ich weiß, wir sind das auserwählte Volk. Aber könntest du nicht ab und zu mal ein anderes auswählen?“ So hadert Tevje mit der himmlischen Instanz. Halt in der Haltlosigkeit gibt ihm die oft besungene „Tradition“, Motto und Hymne der dörflichen Gemeinschaft. Er als Vater trifft die Entscheidungen. Die Frauen fügen sich – nicht.
Aufsässige Töchter
Tochter Zeitel (ganz reizend: Sopranistin Anna Sophia Theil) will keinesfalls den alten Fleischer heiraten, sondern den armen Schneider Mottel (Roman Hoza). Auch Tochter Hodel (Kimberley Boettger-Soller) verzichtet auf die Dienste der Kupplerin Jente (Morenike Fadayomi), sucht sich einen sozialistisch bewegten Studenten aus Kiew und folgt ihm in die Verbannung nach Sibirien. Tevje ist empört, findet aber – „andererseits“ – im Selbstgespräch doch immer Gründe nachzugeben: „Sie sind glücklich.“ Erst, als die dritte Tochter, Chava (Mara Guseynova), mit einem Nichtjuden anbandelt, ist seine Toleranz am Ende. Selbst ein Opfer veralteter Vorstellungen, bricht er mit dem geliebten Kind.
Der stattliche Andreas Bittl gibt dem Tevje eine klare Stimme – ohne drolligen Zungenschlag und folkloristische Attitüde. Er kann herrlich trällern, „deidel diddel, deidel, digge, digge, deidel diddeldum“, aber man merkt doch, dass er professioneller Schauspieler ist und seinen Text nicht knödelt wie manche seiner Sängerkollegen. Mehr Pathos zeigt die amerikanische Mezzosopranistin Susan Maclean als Tevjes Frau Golde. Das passt allerdings vortrefflich zur Rolle der daueraufgeregten Familienmutter. Das Publikum ist ganz verzaubert vom „fröhlichen, traurigen Anatevka“, das die Menschlichkeit beschwört. Nach großem Applaus mit vielen Bravorufen geht man summend nach Hause und wünscht einander viel Glück: „Mazel tov!“
Neu im Repertoire:
Das Musical „Anatevka“ mit der Musik von Jerry Bock und Texten von Joseph Stein und Sheldon Harnick wurde von Felix Seiler neu für die Deutsche Oper am Rhein inszeniert und bleibt bis auf Weiteres im Repertoire. Die Aufführung in deutscher Sprache dauert etwa dreieinviertel Stunden, es gibt eine Pause. Die nächsten Düsseldorfer Vorstellungen sind am 29. und 31. Mai, am 2., 8., 15., 18., 22. und 30. Juni sowie am 2. Juli. www.operamrhein.de