Ukrainische „Orestie“ im Schauspielhaus Düsseldorf
Beim alten Aischylos werden die Erinyen am Ende besänftigt. Jene Rachegöttinnen, die den Menschen durch sein blutiges Schicksal treiben, verwandeln sich in Eumeniden, die Wohlmeinenden, denn der Dichter der Spätantike beschwor in seiner dreiteiligen „Orestie“ ein Ende des rachegetriebenen Gemetzels zugunsten eines neuen Rechtssystems. In der neuen „Orestie. Nach dem Krieg“, die der ukrainische Theatermacher Stas Zhyrkov jetzt zweisprachig in Düsseldorf aufführt, geben die Erinyen der Ukraine keine Ruhe. Sie klagen die Welt an, die „Putins Taten einfach ignoriert“ habe und verweigern Verhandlungen „mit Lügnern“. Der Krieg, er tobt auch in den Köpfen. Nach dem solidarisch herzlichen Applaus bleibt ein Unbehagen.
Die „Odyssee“ frei nach Homer, die Zhyrkov vor einem Jahr in Düsseldorf inszenierte, ging es um den Schmerz ukrainischer Flüchtlingsfrauen, ihre Entwurzelung, die abwesenden Männer, das Warten. Sehr anrührend. Das Projekt „Orestie“, neu dramatisiert von der Kiewer Autorin Tamara Trunova, wird vom Zorn getrieben. Ein Chor ukrainischer Frauen, vom Krieg Betroffene, zugleich Erinyen, zugleich Geschworene, singt (hinreißend) und schreit (markerschütternd). Die Frauen werden quasi angeführt von der ukrainischen Schauspielerin Vitalina Bibliv als Nachbarin, die heult und klagt und, tränenblind, blutverschmiert, mit ganzer Seele agiert.
Ruhm und Hymne
Ein solches Pathos ist im westeuropäischen, konzeptuell geprägten Theater nicht mehr üblich, gilt als suspekt. Hier entwickelt sich seine ganze alte, oft fatale Kraft. Ungebrochen ist vom Heldentum die Rede, die Bedeutung der Hymne wird gepriesen, der „Ruhm der Ukraine“ beschworen. Alle Frauen tragen traditionelle Flechtfrisuren, sogar Claudia Hübbecker in der Rolle einer deutschen Richterin an einem zukünftigen „Intereuropäischen Gerichtshof“, der 2033 auf der befriedeten Krim tagt, gleich neben einer „Archäologischen Ausgrabungsstätte“ mit den abgebrochenen Säulen der Antike. Der welterschütternde Krieg ist vorbei, nach einem ukrainischen Sieg, der offenbar errungen wurde.
Der Todfeind Putin ist jedenfalls verschwunden. Im Prozess geht es um den verdienstvollen ukrainischen Soldaten Orest Horets (Jonas Friedrich Leonhardi), der, ganz wie bei Aischylos, die Mutter und den Onkel umbrachte, nachdem die wiederum den Vater erschlagen hatten. Mit Ach und Krach wird die Wucht der antiken Tragödie in die Gegenwart übertragen und, etwas albern, von einer verhuschten Fernsehreporterin (Pauline Kästner) kommentiert. Ein groß projizierter Vorfilm aus einer miefigen Wohnstube macht aus Klytaimestra die ukrainische Mutter Kateryna, die dem fiesen, von den Russen korrumpierten Schwager verfällt und wegschaut, als dieser Kerl den heimkehrenden Kriegshelden Ivan alias Agamemnon totschlägt.
Blut fordert Blut
Dass Agamemnon viele Jahre zuvor die Tochter Iphigenie opferte und außerdem eine Geliebte aus dem Trojanischen Krieg mitbrachte, wird hier ausgespart. Die Vergeltung ist kurzatmig. Jürgen Sarkiss als Ivan/Agamemnon erklärt mal im weißen Gewand einem Kind die heilige Bedeutung der Hymne, mal spukt er umher im Selenski-Look. Auch Friederike Wagner, der man eine klassische Klytaimestra gewünscht hätte, findet keinen rechten Halt im Rollenwechsel. Sie muss auch noch die Staatsanwältin spielen. In einem Interview mit dem Dramaturgen David Benjamin Brückel formuliert sie es so: „… und dann gehen wir zusammen auf eine seltsame, mäandernde Reise.“
Und die Moral von der Geschicht’? Man weiß es nicht genau. „Blut fordert Blut“, das ist die mit Inbrunst verkündete Devise. Der Krieg, sagt die Richterin, die zugleich die göttliche Pallas Athene sein soll, setze Energien frei. Er entziehe dem Menschen aber seine Komplexität. Wohl wahr. Es gibt nur noch zwei Seiten. Freund oder Feind. Regisseur Zhykov, der 2017 als „Verdienter Künstler der Ukraine“ ausgezeichnet wurde, bis 2022 Intendant des Left Bank Theatre in Kiew war und heute mit seiner Familie in Deutschland lebt, sagt, er wünsche sich nur eins: „Dass der Krieg bald vorbei ist.“ Vom Durchhalten bis zum letzten Atemzug sagt er nichts. Aber die Erinyen geben keine Ruhe.
Weitere Vorstellungen
„Die Orestie. Nach dem Krieg“ frei nach Aischylos von Tamara Trunova und Stas Zhyrkov, der auch Regie führt. Auf Deutsch und Ukrainisch mit jeweiligen Untertiteln. Weitere Vorstellungen im Großen Haus am 26. März, 15. und 29. April. Weitere Produktionen mit Theater und Musik zum „Fokus Ukraine“ gibt es im Rahmen des Festivals „777 Tage“ vom 11. bis 17. April auf den Bühnen des Düsseldorfer Schauspielhauses. www.dhaus.de