Unbändig: Wedekinds „Franziska“ im Schauspielhaus Düsseldorf
Ging ganz schön locker zu in der Schwabinger Bohème vor dem Ersten Weltkrieg. Der beliebte Skandalautor Frank Wedekind hatte bereits in Bruch-Stücken seine Vision von der zügellosen Schicksalsfrau „Lulu“ in die Welt gesetzt. 1912 schockte er Goethe-Verehrer mit einer Art Satire auf den Faust: „Franziska“ wurde vom genussvoll teuflischen Frank persönlich mit seiner Frau Tilly in der Titelrolle in den Münchner Kammerspielen uraufgeführt. 110 Jahre später versucht ein leidenschaftliches Ensemble im Schauspielhaus Düsseldorf, die Verrücktheit von damals unter der Regie von Sebastian Baumgarten in ein gegenwärtiges Erlebnis umzusetzen.
„Habe nichts verstanden, aber ganz lustig war’s“, so tuschelte es nach zweieinhalbstündiger, hyperventilierender Performance auf der Foyer-Treppe. In der Tat sind die aktuellen Bezüge, mit denen Wedekind damals spielte, heute nicht mehr klar. Gut, dass Dramaturgin Janine Ortiz so ein ordentliches Programmheft macht. Sonst wüssten wir zum Beispiel nicht, dass Franziska der Vorname der rebellischen Gräfin Franziska zu Reventlow war, die auf Konventionen pfiff und in den Schwabinger Cliquen ein lockeres Leben als Übersetzerin und Gelegenheits-Prostituierte mit unehelichem Kinde führte.
Genderfluides Mysterium
So eine Freiheitsdenkerin ist auch die Heldin des „modernen Mysteriums“, das Wedekind da ersann. Seine Franziska trotzt der Mutter, die genderfluid von einem Mann (Rainer Philippi) gespielt wird und will den steif-clownesken Dr. Hofmiller (Kilian Ponert) nicht heiraten. Sonja Beißwenger wirft sich in die Rolle, malt „Manipulation“ an die Wände, turnt über den Tisch mit aufgelösten Rockspitzen und Haaren, die sie knurrend durch verkleckerte Farbe zieht. Doch es kommt nicht der Exorzist, sondern im Gegenteil ein Satan in Gestalt eines Versicherungsvertreters namens Veit Kunz (Florian Claudius Steffens). Der bietet einen Vertrag an: Franziska kann ein paar Jahre flott und grenzenlos als Mann leben, dann gehört sie ihm.
Schwarzes Kajal um die Augen, Frack und Glitzerhosen lassen Veit auf karnevaleske Art mephistophelisch aussehen. Und irgendwie erinnert der Nachtclub, in den er die franzgewordene Franziska führt, entfernt an Goethes sündhafte Walpurgisnacht. Eine „Mausi“, die dem hübschen Franz folgen will, wird vom Zuhälter erschossen – das erste von drei Opfern der überaus wirren Ereignisse. Später erscheinen Mausi und die anderen toten Frauen als Zombies im Geisterchor eines Dante-Stücks im Berliner Theater der Fünftausend. Aber das versteht auch nur, wer das Programmheft gelesen hat.
Die nackte Wahrheit
Der Deal, das wird klar, taugt nichts. Denn Franziska ist nämlich doch kein echter Mann, sondern schwanger vom Teufelsmacho Veit. Eine Karriere als Filmstar hat sie nur verkleidet und mit angeklebtem Räuber-Hotzenplotz-Schnurrbart geschafft. Cathleen Baumann als hysterische Ehefrau muss das feststellen, während sie über albern betextete Polsterwürfel stolpert („Granny Fucker“), und knallt sich ab. Es geht dann nach einer Abtreibung weiter zum avantgardistischen Herzog von Rotenburg, der sich dem Kaiser nicht unterwerfen will (hat mit Wedekinds Familiengeschichte zu tun) und ein eigenes Stück zur Feier der Nackten Wahrheit und der Heiligen Nacktheit aufführen lässt.
Die Nacktheit (Caroline Cousin) will nicht nackt auftreten und bringt sich aus Scham um. Auch ein Schweinehund macht mit, aus einem Drachen ist ein riesiger Pleitegeier geworden. Oder so. Ach: Und vor dem Spiel im Spiel erscheint Franziska dem Herzog im Ganzkörpertrikot als androgynes Idealwesen. Aus einem Ei tönt eine „geheime heilige Schrift“. Nietzsches Übermensch wird da wohl beschworen. Eine sinnvolle Handlung gibt es nicht.
Ab in den Bühnenhimmel!
Statt die wirre Fülle von Wedekinds Fantasien mit Klarheit und Strenge zu bändigen, hat der viel beschäftigte Regisseur Sebastian Baumgarten noch zahlreiche Assoziationen und Kaspereien hinzugefügt. Außer Franziska und ihrem Teufel müssen alle Mitwirkenden mehrere Rollen spielen. Auf einer Bühne, deren bruchstückhafte Architektur vom niederländischen Atelier Lieshout mit Projektionen von Straßen, Zügen und Fassaden in einen fließenden Zustand versetzt wird, kann sich keinerlei Konzentration einstellen.
Alles zappelt und kreischt, ein nicht abgetriebenes Kind fährt mit einem Dreirad aus Schrott, während der Musiker Jovan Stojšin am Rand ganz gelassen seine E-Gitarre aufjaulen lässt. Am Ende sieht man erleichtert, wie Franziska mit ihrem neuen Geliebten, einem Maler, der eine Frau ist, an Gurten in den Bühnenhimmel schwebt. Das Premierenpublikum zeigte sehr gute Nerven, viele Fans spendeten enthusiastischen Applaus.
Die nächsten Vorstellungen
„Franziska – Ein modernes Mysterium“ von Frank Wedekind wurde von Sebastian Baumgarten für das Große Haus des Düsseldorfer Schauspielhauses inszeniert. Nächste Vorstellungen sind am 13. und 30. Oktober, am 15. November sowie am 15. Dezember. Infos und Tickets unter www.dhaus.de