Hommage an eine zornige Frau: „Annette“ im Schauspiel Düsseldorf
Manche Geschichten sind so stark, dass sie keine Erfindungen brauchen. Als die deutsche Autorin und Übersetzerin Anne Weber zufällig die alte französische Widerstandskämpferin Anne Beaumanoir kennenlernte, wollte sie von deren Leben, Abenteuern, Amouren erzählen. Knapp, ohne Ausschweifungen. Aber mit einem Rhythmus, der Banales in Erhabenes verwandelt. Es entstand, frei nach antikem Vorbild in Verse gesetzt, „Annette, ein Heldinnenepos“. Dieses ungewöhnliche Buch für sich zu lesen, ist schon inspirierend. Die Regisseurin Bernadette Sonnenbichler hat daraus am Düsseldorfer Schauspielhaus einen packenden Theaterabend gemacht.
Drei Frauen und ein Mann füllen die Geschichte mit sichtbarem Leben: Judith Bohle, Fnot Taddese, Friedrike Wagner und Sebastian Tessenow. Wie eine sehr coole Band in schwarzen Anzügen stehen sie zu Beginn vor Mikrophonen. Der Jazzer Jacob Suske zupft den Kontrabass, die vier machen ein paar Tanzschritte. Und es klingt fast wie ein gesprochener Song, wenn sie von der Kindheit der Anne Beaumanoir, genannt Annette, erzählen: „Glück ist der Grundton ihres Alltags. Von Anfang an / durchdrungen von dieser unhörbaren wärmenden Musik, / ausgestattet mit den hellen Augen und dem / unerschrocknen Herzen ihrer Eltern / tritt Annette auf.“
Traum von mutigen Taten
Am rauen Meer ist sie 1923 geboren, in der Bretagne. Die geliebte Großmutter, eine Strandkrabbensammlerin, ist nie zur Schule gegangen, die Eltern träumen als Sozialisten von einer besseren Welt. Annette lernt mühelos, sie wird später Medizin studieren und Ärztin werden. Aber eigentlich träumt sie von mutigen Taten. Schon als 17-Jährige unter deutscher Besatzung lässt sie sich von der Résistance für erste Kurierdienste anheuern, transportiert mit ihrem Fahrrad heimliche Päckchen. Richtig gefährlich wird es in Paris, wo Annette sich in einen älteren Widerstandskämpfer verliebt und zwei jüdische Kinder rettet, die sie bei ihren Eltern in der Bretagne unterbringt. Die Heldinnentat bringt Annette und ihrer Familie später einen Platz in der Gedenkstätte Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ ein.
Nach dem Krieg scheint sich ein gewöhnliches Glück einzustellen. Annette heiratet (schon zum zweiten Mal), bekommt zwei Söhne, arbeitet als Ärztin. Doch in den späten 1950er-Jahren opfert sie ohne Zögern die bürgerliche Ordnung, um sich dem Kampf der algerischen „Nationalen Befreiungsfront“ FLN anzuschließen, als Kurier und Fahrerin. Der Zorn treibt sie, die Kolonialherrschaft Frankreichs erscheint ihr unerträglich. Vor dem FLN-Terror, der zahlreiche zivile Opfer fordert, verschließt sie die Augen. Eine Grenze ist überschritten, als sie, schwanger mit dem dritten Kind, festgenommen wird.
Entschlossenheit und Schuld
Zu zehn Jahren Haft verurteilt, flieht sie nach der Geburt ihrer Tochter aus Frankreich nach Tunis, findet einen jungen Algerier unwiderstehlich, fraternisiert mit den neuen, ebenfalls gewaltbereiten Machthabern und lässt ihre Familie hinter sich. Nein, Annette verhält sich nicht wie eine liebende Mutter, sie stellt, eher typisch für Männer, den Feldzug über die Moral. Das Schuldgefühl wird sie auch noch im Alter umtreiben, als sie als pensionierte Ärztin komfortabel in der Schweiz lebt. Eine Heldin wie sie mag mutig und entschlossen sein, das macht sie nicht unbedingt grundsympathisch.
Getrieben, gefangen, zerrissen – das war Annette in ihrer umstrittenen Laufbahn. Und das macht die Inszenierung sichtbar. Ein schräger Raum mit kippenden Regalen, den David Hohmann gebaut hat, verwandelt sich durch Spiel und Projektion in die Schauplätze, durch die Annette gehetzt wird. Judith Bohle, ihre vielleicht überzeugendste Verkörperung, befindet sich durch raffinierte Videotechnik in der Zelle und im nächsten Moment im Wohnzimmer, dann im Gerichtssaal, auf der Flucht.
Im Netz der Ereignisse
Atemlos wechseln die Bilder. Ein gewaltiger Vorhang wird zum Spinnennetz, in dem sie sich verfängt. Die Machthaber – General de Gaulle und der erste algerische Präsident Ben Bella – sind Maskenköpfe mit beweglichen Mündern, die ihre Sprüche klopfen. Ohne den Faden der Verse zu verlieren, spielen die vier Mimen mit Tüchern, Kisten, einer Leiter, einem Megafon. Das hat Tempo, bleibt aber zwei pausenlose Stunden lang immer präzise. Begeisterter Applaus, auch für die Autorin Anne Weber, die zur Premiere angereist war.
Ihre Heldin hat das nicht mehr erlebt. Während das Ensemble für den großen Auftritt probte, starb Anne Beaumanoir, genannt Annette, am 4. März mit 98 Jahren in ihrer Heimat, der Bretagne.
Die nächsten Vorstellungen
Bernadette Sonnenbichler hat Anne Webers Versroman „Annette, ein Heldinnenepos“ für die große Bühne des Düsseldorfer Schauspielhauses eingerichtet. Weitere Vorstellungen der Inszenierung sind für Dienstag, 29. März, Sonntag, 10. April, Sonntag, 24. April, Samstag, 7. Mai, und Dienstag, 21. Juni, geplant. Die Theaterkasse auf dem Gründgens-Platz ist Mo.-Fr. von 10 bis 18.30 Uhr, Sa. bis 14 Uhr geöffnet. Informationen und Tickets auch unter www.dhaus.de