Mosaik Düsseldorf erinnert an 60 Jahre Deutsch-Türkisches Anwerbeabkommen
Sie kamen mit der Baglama, der türkischen Langhals-Laute. Manche hatten ihren Gebetsteppich eingerollt im Gepäck. Und alle einte dieser Wunsch: „Wir wollen unsere Familien unterstützen und unseren Kindern eine bessere Zukunft bieten.“ An den 60. Jahrestag des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens (30.10.2021) erinnerte Mosaik e.V. im Stadtmuseum Düsseldorf. Dabei forderte Referent Nihat Öztürk das Wahlrecht für zehn Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland.
Weit gefasst
Vor rund 80 Gästen erweiterte Nihat Öztürk den Einladungstext. Mosaik will den interkulturellen Dialog fördern – niemanden hervorheben, niemanden ausgrenzen. Er wolle sich deshalb nicht allein auf die türkischen Gastarbeiter und ihre Kinder und Enkelkinder beziehen. Insgesamt habe Deutschland durch 14 Millionen sogenannten Gastarbeiter Entwicklungshilfe bekommen.
Menschen-Puffer in guten und schlechten Zeiten
Das zwei Seiten lange, am 30. Oktober 1960 in Bonn zwischen Deutschland und der Türkei unterzeichnete Anwerbeabkommen sei ja auch nicht das erste seiner Art gewesen. Bereits 1955 hatten Deutschland und Italien ein solches Papier unterschrieben. Um Integration ging es dabei nicht, sagte Nihat Öztürk, der lange Jahre Geschäftsführer der IG Metall in Düsseldorf-Neuss war: „Die Gastarbeiter sollten ein Arbeitskräftereservoir in Aufschwung-Zeiten sein und Puffer in der Rezession.“
Ambivalenz der Gewerkschaften
So betrachteten Wirtschaft und konservative Politiker die, die da aus Südosteuropa nach Deutschland kamen, um hier ihr Glück zu finden. Sie gingen einen steinigen Weg. Gepflastet mit Misstrauen. Zunächst ohne Sprachkurse. Ohne Institutionen oder Menschen, die ihnen die Hand reichten. Auch die Haltung der deutschen Gewerkschaften zu den Gastarbeitern sei zunächst ambivalent gewesen. Manche hätten in den neuen Kollegen mögliche Lohndrücker und Streikbrecher vermutet. Öztürk: „Seit 1955 hat es keinen Fall gegeben, in dem Gastarbeiter als Streikbrecher aufgetreten sind.“
Verdienst der Pioniere
Öztürk würdigte die Rolle von Pionieren, von Menschen, die das Potenzial der Arbeitskräfte aus dem Ausland früh erkannt hätten. Stellvertretend für den sehr präzisen und faktenreichen Vortrag von Nihat Öztürk sei hier der Name des IG Metall-Vorsitzenden Otto Brenner erwähnt, der seine Gewerkschaft für die neuen Kolleg*Innen öffnete.
Rassismus und Faschismus
Das dunkle Deutschland, rassistisch und faschistisch, schafft es bis heute, die vollständige Integration der Arbeitsmigranten in Deutschland zu verhindern, beklagte Öztürk Nihat. Im Jahr 1973 wurde ein offizieller Anwerbestopp verkündet. Ultrarechte Professoren initiierten 1982 den völkisch motivierten „Heidelberger Appell“, in dem sie von einer Unterwanderung des deutschen Volkes geschwurbelt wurde. Anfang der 1990er Jahre gab es die Angriffe und Morde von Hoyerswerda, Rostock, Mölln und Solingen. Es wurden Kinder, Frauen, Männer durch Deutsche umgebracht.
Immer gleicher Grundverdacht
„Viele Politiker bekundeten ihr Beileid, doch niemand kam zu den Hinterbliebenen – mit Ausnahme von Johannes Rau“, sagte Öztürk. Jährlich habe Rau die Familie Genç aus Solingen besucht. An dem Grundverdacht von Polizei und Sicherheitsbehörden gegen Menschen mit Migrationshintergrund habe sich trotz dieser Morde nichts geändert. Als die drei Rechtsterroristen von NSU 2.0 gezielt ausländische Unternehmer ermordeten, ermittelten Polizei und Verfassungsschutz lange unter dem Hauptverdacht, es handele sich um Streitigkeiten im Migranten-Milieu. „Erst als die drei Täter sich selbst richteten und verhaftet wurden, änderte sich das.“ Und auch auf die aktuellen Anschläge von Hanau wurden erst mit Verzögerung unterbunden.
Bitterkeit – und Erfolge
60 Jahre deutsch-türkisches Zusammenleben hat viel Bitterkeit, Wut und Enttäuschungen hervorgebracht. Aber auch dies: Manche haben ihre Chancen genutzt. Referent Nihat Öztürk wurde 1973 als Arbeiter angeworben, studierte später Soziologie und Sozialökonomie als Stipendiat der Hans-Böckler-Stiftung und war lange als Geschäftsführer der IG Metall Düsseldorf-Neuss tätig. Von den rund drei Millionen türkisch-stämmigen Menschen, die heute in Deutschland leben, wurden mehr als 103.000 Unternehmen gegründet und über 800.000 Arbeitsplätze geschaffen, so Öztürk.
„Denkmal des Gastarbeiters“
Der zweite Referent des Abends, Dr. Necmi Sönmez, Kunsthistoriker aus Essen, arbeitet als Kurator unter anderem an einem „Denkmal des Gastarbeiters“, das auf dem Gelände der Zeche Zollverein in Essen seinen Platz finden soll. Er erläuterte die bislang von Künstlern gemachten Vorschläge hierfür – die von einem durchsichtigen, den Himmel zeigenden Baldachin bis hin zu einer vielfach gekreuzten Dorf-Linde reichen. Sönmez persönlich bekundete seine Sympathie nicht für ein fixes Denkmal, sondern für einen Ort, an dem stets neue Künstler wechselnde Aspekte der Arbeitsmigration und Integration in Deutschland zeigen könnten.
Noyan Dalgic bereicherte den Abend um zwei klassische Klavierstücke. Es gilt unverändert der Satz von Max Frisch als dem Jahr 1965: „Wir riefen Arbeitskräfte und es kamen Menschen.“