Schreckensspaß: Dürrenmatts irre „Physiker“ im Schauspiel Düsseldorf
So soll Theater sein! Eine Überraschung, die uns aus der Abonnenten-Schläfrigkeit reißt. Ein neuer Blick auf ein Stück Literatur, das wir zu kennen glauben. Ein Erlebnis! Dürrenmatts 60 Jahre alte Satire „Die Physiker“, der Stoff zahlloser Deutschstunden und verquälter Erörterungen, lässt eine Pflichtübung befürchten. Man seufzt schon im Voraus. Doch Regisseur Robert Gerloff, 1982 in Duisburg geboren, hat auf der kleinen Bühne des Düsseldorfer Schauspielhauses eine frische, scharfsinnige und allen Katastrophen zum Trotz lustige Show inszeniert – mit verrückt guter Musik und Videokunst.
Dabei wird das Wort keineswegs verachtet oder modisch verhunzt. Gerloff nimmt den Text dieser bitterbösen Komödie sehr ernst. „Nehmen Sie Vernunft an!“ appelliert gleich zu Anfang ein Videostream, der von weißen Kaninchen, Ratten, Micky Mäusen und Menschen handelt. Da schweben Wolken und Atompilze, es zündelt, die Erde glüht feuerrot, Figuren des Dramas erscheinen wie groteske Kasperln. Die dreigeteilte Projektion flimmert über bewegliche Podeste und ist zugleich das Bühnenbild (ein Gesamtwerk von Maximilian Lindner).
Flucht vor dem Fortschritt
Mit dezent-schrillen Klängen und Gesängen sorgt die in Australien geborene Musikerin und Performance-Künstlerin Lila-Zoé Krauß live für den Soundtrack zu dem Stück, mit dem der große Schweizer Pessimist und Humanist Friedrich Dürrenmatt (1921-1990) einmal mehr die Welt warnte. Schon lange vor der neuen Öko-Bewegung sah er die Katastrophen kommen: Bevölkerungsexplosion, Klimawandel, verheerende Waffensysteme, unkontrollierbare Viren. Die wachsenden Erkenntnisse und Fähigkeiten der Wissenschaft, fürchtete Dürrenmatt, könnten die Menschheit in ihren Untergang führen.
Die Lage ist also hoffnungslos. Da bleibt nur Sarkasmus. Und deshalb hat sich der geniale Physiker Möbius (von Kilian Ponert als großes Kind gespielt) bei Dürrenmatt in ein „Irrenhaus“ zurückgezogen: „Ich wählte die Narrenkappe!“ In der feinen psychiatrischen Anstalt „Les Cerisiers“, verbirgt er seine zerstörerischen Forschungsergebnisse und „das System aller möglichen Erfindungen“ vor der machtgierigen Gesellschaft. Um als komplett verrückt zu gelten, behauptet er, der Geist des weisen Königs Salomon würde ihm erscheinen und die Weltformel verraten.
Drei rätselhafte Todesfälle
Niemand darf die Wahrheit wissen. Auch nicht die liebevolle Krankenschwester Monika (Fnot Taddese). Als sie partout mit ihm fliehen will, sieht sich Möbius leider gezwungen, sie mit der Vorhangkordel erdrosseln. Das ist nicht der erste „Unglücksfall“ in der renommierten Anstalt. Kriminalinspektor Voß (köstlich verwirrt: Thiemo Schwarz) musste bereits zweimal in ähnlichen Angelegenheiten ermitteln. Denn zuvor erdrosselten zwei weitere Patienten, ebenfalls Physiker, ihre liebevollen Krankenschwestern. Da sie verrückt sind, können sie nicht weiter belangt werden.
Der eine, Beutler (witzig-elegant: Rainer Philippi), hält sich angeblich für Isaac Newton, der Ende des 17. Jahrhunderts das Gravitationsgesetz entdeckte. Der andere, Ernesti (in Gestalt einer energischen Frau, Cathleen Baumann), gibt den Einstein und beschwört die Relativitätstheorie. Doch beide, stellt sich schnell heraus, spielen ihre Geisteskrankheit ebenfalls nur vor. In Wirklichkeit sind sie Spione von „Organisationen“ (im Kalten Krieg waren das noch West und Ost, CIA und KGB), die Möbius und sein Genie auf ihre Seite ziehen wollen.
Wer sind hier die Verrückten?
Als sich die Physiker einander offenbaren, scheint ein Sieg der Vernunft für einen Moment nicht unwahrscheinlich. Möbius hat seine Aufzeichnungen vorsichtshalber vernichtet. Doch nach Dürrenmatts Ansicht kann nichts, was einmal ersonnen wurde, rückgängig gemacht werden. Und, so zitiert ihn das Programmheft, „eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmst mögliche Wendung genommen hat“. Schwere Jungs ersetzen als Pfleger die ermordeten Schwestern, das Irrenhaus ist ein Gefängnis für die Physiker geworden. Und ihr Wissen wurde längst gestohlen von Chefärztin Doktor Mathilde von Zahnd (Paraderolle für Claudia Hübbecker), die wirklich wahnsinnig ist und nach der Weltherrschaft greift.
Diese komplexen Vorgänge werden vom Ensemble lässig auf anderthalb Stunden verdichtet. Sechs Personen in klinisch weißen Strampelanzügen spielen mindestens doppelt so viele Rollen – auf der Bühne und im Video. Sie lassen keinen Zweifel am Ernst der Situation. Und sorgen oft für ein befreiendes Lachen. Vielleicht ist ja doch noch nicht alles zu spät …
Mehr von den Physikern
Die nächsten Vorstellungen der Komödie „Die Physiker“ von Friedrich Dürrenmatt im Kleinen Haus des Düsseldorfer Schauspielhauses am 25. und 26. September sind schon ausverkauft. Es gibt eventuell Restkarten an der Abendkasse. Weitere Termine für die Inszenierung von Robert Gerloff: 10., 15. und 25. Oktober. Die Vorstellung dauert anderthalb Stunden. Ohne Pause. www.dhaus.de