„Lasst uns tanzen“: Compagnie La Baraka beim Düsseldorf Festival
Es gibt sie immer noch, diese Vorstellung der ätherischen Schönheit im Ballett. Die tanzenden Wesen auf den Spieldosen unserer Erinnerung sind elfenhaft zart, sie schweben gleichsam über der Realität. Das gilt nicht für die Compagnie La Baraka aus dem südfranzösischen Städtchen Annonay. Junge Menschen, so verschieden wie im wahren Leben, zeigen beim Düsseldorf Festival eine atemberaubende Show voller Anmut und berückendem Ausdruck. „Premiers Pas“, erste Schritte, so der bescheidene Titel. Das Publikum im Theaterzelt auf dem Burgplatz ist hingerissen.
Als Kind algerisch-ägyptischer Eltern wurde der Choreograf Abou Lagraa in Frankreich geboren. Das Ballett hat für ihn nicht nur eine künstlerische, sondern auch eine gesellschaftliche Bedeutung: „Lasst uns tanzen“, schrieb er in Le Monde, „um die gläserne Decke zu durchbrechen.“ Gemeinsam mit seiner prachtvollen Ehefrau und Kollegin Nawal Lagraa Aït Benalia sucht er nicht nur in herkömmlichen Ballettschulen und im Modern Dance nach Talenten, sondern auch auf der Straße, beim Streetdance, in den Vorstädten. „Plus fort“, „plus vite“, stärker, schneller, so feuert er in einem Probenvideo einige seiner jungen Leute an.
Eine Atmosphäre aus Licht
Und er verlangt ihnen einiges ab. Die Truppe im Zelt tanzt losgelöst von ihren eigenen Gewohnheiten und Gewissheiten in einer abstrakten Umgebung aus farbigem Licht zu Violin-Sonaten von Bach. Blau, rot und golden leuchtet die leere Bühne, über die sich fünf Frauen und vier Männer barfuß bewegen. Sie haben kein Gleichmaß, sind schlank oder mollig, groß und klein, so weiß wie Schnee und so schwarz wie Ebenholz. Alle tragen fließende Overalls mit weiten Beinen, die bei jedem Schritt flattern. Doch sie fliegen nicht hoch. Statt der üblichen Sprünge gibt es spektakuläre Fallübungen. Man stürzt mit voller Körperbeherrschung zu Boden und erhebt sich wieder, biegt den Rücken, voller Kraft und katzenhafter Grazie.
Ein schwerer Glatzkopf mit Bart und tätowierten Armen kann sich mühelos überschlagen, kopfüber tanzen, eine Schädel-Pirouette drehen, eine Partnerin wie einen Ball schnappen. Er kann unsichtbare Geister abwehren. Und die feinsten Gesten in die Luft zeichnen. Manchmal bewegen sich die Tänzer eckig wie Marionetten ohne Fäden, dann wieder suchen sie einander in weichen Berührungen. Zum Pas de Deux finden ein zierlicher Mann und ein größeres Mädchen zusammen – gegen die Klischees.
Kampf mit dem Herrenhemd
Ohne Pause geht es nach dieser Kraftanstrengung weiter in den zweiten Teil des Abends, choreografiert von Lagraas Frau Nawal. Die Tänzer*innen tragen Anzughosen und Herrenhemden, die im Tanz ausgezogen, mit den Zähnen gezerrt und verknautscht werden, dann verkehrt herum angezogen. Durchaus witzig ist das Spiel mit den bürotauglichen Kleidungsstücken, die man als Symbol für Konvention, Alltag, Sicherheit ansehen könnte.
Der wahre Mensch kommt zum Vorschein, mit seiner Sinnlichkeit, seiner Wut, seinem Elend, seiner Lust. Man kriecht am Boden und rappelt sich auf, man schüttelt sich und lebt mit jeder Faser des Körpers, der Gehäuse einer sehnenden Seele ist. Die Musik von Olivier Innocenti zirpt und knistert, steigert sich zum Dröhnen, lässt schließlich das „Agnus Dei“ von Samuel Barber dazwischen singen und ins Herz eindringen. Stehende Ovationen.
Mehr vom Düsseldorf Festival
Kurz Entschlossene können die Compagnie La Baraka mit „Premiers Pas“ heute Abend, 13. September, 20 Uhr, bei ihrer zweiten Vorstellung sehen. Bis zum 27. September gibt es im Theaterzelt auf dem Burgplatz und in Kirchen der Altstadt ein vielfältiges, innovatives Programm mit Musik, Tanz, Theater und neuem Zirkus. Zutritt für Geimpfte, Genesene und frisch Getestete. Informationen und Tickets an der Kasse im Theaterzelt (ab 11 Uhr) und über www.duesseldorf-festival.de