NRW-Forum Düsseldorf: Im Paradies sind Plätze frei
Das wahre Leben ist ja gerade nicht so lustig: Pandemie, globale Krisen, Klimakatastrophen. Zur Ablenkung guckt der Mensch tagein tagaus aufs Smartphone, aber das erzeugt ein schales Gefühl. Wie gut, dass es das NRW-Forum gibt, wo der künstlerische Leiter Alain Bieber beweist: Mit Hilfe von smarter Technologie können auch wahrhaftige Erlebnisse geschaffen werden. Die AR Biennale schickt Spaziergänger auf die Suche nach virtuellen Kunstwerken in echter Natur. Und im Haus gibt es einen ganz besonderen Abenteuerspielplatz aus optischen Illusionen und handfesten Installationen: „Willkommen im Paradies“.
Das gefällt garantiert auch dem Nachwuchs, der keinen Bock auf Museen hat – und die ältere Generation trainiert nebenbei ihre technischen Fähigkeiten. Also: Frisch gewagt! An der Kasse sollte man sich erst einmal zwei Apps herunterladen: für die Augmented Reality (AR) draußen und eine kleine Pixeljagd („Alpha“) drinnen. Denn nur, wer an vier verschiedenen Stellen in zwei Sälen genügend schwarze Pixelpunkte sammelt, besitzt am Ende den kompletten QR-Code für einen letzten Raum, wo der Franzose Fabien Prioville mit seiner Tanzkompanie eine Video-Vorstellung gibt.
Zeit der inneren Befreiung
Aber zuerst gehen wir im Erdgeschoss links durch einen Vorhang in eine Dunkelheit, wo es leuchtet, raunt und rasselt. Gleich vorne tritt, von der Italienerin Paola Pinna programmiert, eine puppenhafte Avatarin aus dem metaphorischen Käfig ihrer Empfindungen, während die Stimme einer spirituellen You-Tube-Lehrerin mahnt: „The time has come to set yourself free.“ Zeit, sich zu befreien. Wir sind so frei und schleichen um die Ecke, wo der Schwarzlichtmaler Eugen Schramm auf der Wand diamantengleiche Sterne schweben lässt. Links lädt Co-Kuratorin Vesela Stanoeva zur Entdeckung der „Inneren Sonne“ in einem lila leuchtenden Spiralraum. Rechts bewegt sich ein großes Mobile, das die Mülheimer RaumZeitPiraten aus Röhren, Kabeln, Lichtern, allerlei flirrenden Elementen, Steckdosen und Motörchen konstruiert haben.
Irgendwie scheint das Ding auf die Annäherung der Besucher empfindlich zu reagieren. Es zuckt so mit den Gliedern. „Guerilla-Performance-Maschinen“ nennt das kreative Team diese witzig-moderne Sorte kinetischer Kunst. Die Britin Hazel Brill will tiefer in das menschliche Gemüt eindringen. In ihrer Video-Installation „Greetings“ sieht man innerhalb einer brustkorbartigen Skulptur unter anderem eine geisterhafte Hand beim Zeichnen, ein außerirdisch wirkendes Wesen spielt die Geige, Farben und Formen vermischen sich zu einem irritierenden Traumspiel. Aber es kommt noch viel wundersamer. Durch eine Dornröschenhecke aus blutroten Foto-Geflechten (Dagmar Hugk) geht es weiter in einen Märchenwald mit Wow-Effekt.
Baden im Fluss aus Licht
Die PriseSalz Crew aus dem Ruhrgebiet hat aus allerlei Recycling-Material einen riesigen Baum und viele kleine Ranken und Büsche gepflanzt. Wie Laternen hängen leuchtende kleine Hausgebilde in den Zweigen – doch die Stadt ist fern, nicht mehr als eine Erinnerung. Eine Projektion versetzt uns in die „Woodlands“, eine menschenleere, sonnendurchflutete Ur-Landschaft mit Wäldern, Wasserfall und Bergen, die Barbara Herold & Florian Huth am Computer geschaffen haben. Gegenüber strömt ein Fluss aus buntem Licht über Wand und Boden. Tina Malburg und Emil Cyrill Gerhardt vom MireviLab der Hochschule Düsseldorf sorgten für diesen interaktiven „Paradise Stream“. Man darf darin sogar baden und Farbwirbel erzeugen.
Für alle, die sich nicht satt sehen können und noch ein bisschen verweilen wollen in diesem Garten Eden der Zivilisationsflucht, haben die Kreativen der PriseSalz Crew ein Baumhaus mit gemütlichen Polsterbänken gebaut. Davor flackert und qualmt sogar die Simulation eines Lagerfeuers. Und hätte man nicht die ganze Zeit die verflixte Atemschutzmaske auf, könnte man vielleicht sogar die Naturdüfte der Firma Scentcommunication wahrnehmen.
Wo der künstliche Nebel wallt
Ein bisschen unheimlich ist sie schon, die Illusion, für die man keine Außenwelt mehr braucht. Auf der anderen Seite des NRW-Forums sieht das anders aus. Im hellen, fast grellen Licht steht da eine spröde Computerinstallation des Japaners Noriyuki Suzuki: Der Apfel (der Erkenntnis?) hängt wie ein Planet in einem astronomischen Gestell und wird virtuell zerlegt. In Audio-Programmen spottet die Österreicherin Christiane Peschek ein wenig über die Digitalisierung der Wellness- und Entspannungsindustrie, während die Französin Sandrine Deumier mit 3D-Vision in ihren virtuellen „Intimate Garden“ bittet.
Hinter verspiegelten Wänden (keine Kunst, nur Raumgestaltung) wird’s noch einmal romantisch: Da wallt ein künstlicher Nebel, in dem Ringe wie Rauchzeichen auftauchen und verschwinden. Die japanische Architektin Azusa Murakami und der britische Künstler Alexander Groves haben dazu Düfte von Früchten, Holz und Gras freigesetzt. Aber: Die Masken verhindern auch hier die Fein-Wahrnehmung.
Der unsichtbare Skulpturenpark
Aufatmen und nach Belieben schnuppern darf man hingegen bei der AR Biennale am Ehrenhof und im Hofgarten. Wer sich die AR-App aufs Smartphone oder Tablet geladen hat, besitzt den Schlüssel zu einem für das bloße Auge unsichtbaren Skulpturenpark. 19 Künstler*innen aus der Welt der „Erweiterten Wirklichkeit“ haben insgesamt 35 Werke auf Wegen und Wiesen versteckt – wie man es aus dem Pokémon-Go-Spiel kennt. Schilder mit QR-Codes markieren die Zugänge. Und natürlich: Es macht großen Spaß, auf die Pirsch zu gehen.
Ich sehe was, was du nicht siehst: ein walartiges Flugwesen über dem Museum, eine Tänzerin im Brunnen, eine Fee, die aus dem Gebüsch tanzt, einen Klabautermann, der Kunst geklaut hat. Imaginäre Blumen, schwebende Sprüche – die Kunst will nur spielen. Das Londoner Studio Above&Below stellt allerdings einen kritischen Bezug zur Realität her. Ein Schwarm vogelartiger Punkte reagiert sensortechnisch auf die aktuelle Luftverschmutzung. Je mehr Punkte, desto mieser ist die Luft am Rhein. Da holt das wahre Leben uns ein.
Was, wann und wo?
„Willkommen im Paradies“ heißt es bis zum 9. Januar 2022 im NRW-Forum Düsseldorf, Ehrenhof 2. Geöffnet Di., Mi., Sa./So. 11 bis 18 Uhr, Do. und Fr. 11 bis 21 Uhr. Eintritt: 7,50 Euro. Die AR Biennale am Ehrenhof und im Hofgarten kann bis zum 20. Februar 2022 jederzeit bei Tageslicht erforscht werden. Man braucht dazu die App „AR Biennale“ (kostenlos im App-Store). Damit kann man die QR-Codes auf den Hinweisschildern scannen. Sofort erscheinen die Skulpturen und Performances auf dem Display und lassen sich auch in der App fotografieren. 13 Werke sind auf diese Weise frei zugänglich, weitere 22 Werke kann man für insgesamt 4,99 Euro freischalten. Informationen und Begleitprogramm www.nrw-forum.de