Drama der Einsamkeit: Büchners „Lenz“ im Schauspiel Düsseldorf
Es fließen die Desinfektionsmittel, Paketband blockiert die Nachbarsitze, alles fühlt sich noch anstrengender an. Auch während der Vorstellung muss der ermahnte Mensch neuerdings die Mund-Nasen-Bedeckung aufbehalten und flach atmen. Nur echte Liebhaber verlassen fürs Theater ihre heimische Komfortzone – und freuen sich umso mehr, wenn sie belohnt werden wie jetzt auf der kleinen Bühne des Düsseldorfer Schauspielhauses. Der fabelhafte Jonas Friedrich Leonhardi macht aus Georg Büchners Erzählung „Lenz“ im Alleingang ein reiches, tiefgründiges, spannendes Drama – with a little help von seinem Regie-Freund Fabian Rosonsky.
Ein bisschen heikel
„Den 20. Jänner ging Lenz durchs Gebirg …“. Generationen von Oberschülern und Germanistikstudenten haben sich durch die Novelle gearbeitet, die erst nach dem frühen Tod des vielversprechenden Jung-Dramatikers Georg Büchner (1813-1837) veröffentlicht wurde. Ein bisschen heikel, denn Büchner hatte den Stoff zu weiten Teilen geklaut – von einem Pastor aus dem elsässischen Bergdorf Waldbach namens Johann Friedrich Oberlin. Dieser fromme Mann hatte 1778 den erschöpften Sturm-und-Drang-Dichter Jakob Michael Reinhold Lentz bei sich aufgenommen und einen Bericht über dessen Nervenkrise geschrieben. Büchner zitierte ganze Passagen wortwörtlich und schuf dennoch eine eigene poetische Prosa, die bis heute leuchtet.
Wanderung durch die Vogesen
Was der durchtrainierte Leonhardi unter Rosonskys Regie daraus macht, ist allerdings viel mehr als eine szenische Lesung. Mit vollem Körpereinsatz und einem Sampler, der seine Stimme und diskrete Töne zum vollen Soundtrack macht, führt uns der 30-jährige Schauspieler auf Lenzens Wanderung durch die Vogesen. Was da pfeift und schnalzt und singt, sind der Wind und die quälenden Empfindungen des von bipolaren Störungen geschüttelten Mannes, der bald euphorisch die Schönheit der Natur wahrnimmt, bald eine grässliche Entfremdung: „Es fasste ihn eine namenlose Angst in diesem Nichts: Er war im Leeren!“
Aus der Realität des Augenblicks: Jonas Friedrich Leonhardi vor weißen Klebestreifen.
Der Schauspieler, der ganz wie Büchners Lenz ein rührendes „blasses Kindergesicht“ hat, bewältigt den stundenlangen Monolog so glaubhaft, als hole er ihn direkt aus der Realität des Augenblicks, was übrigens ganz im Sinne des Dichters ist. Mitten in der Novelle lässt Büchner den Lenz das eigene Kunst-Credo sprechen. Wahrhaftigkeit war ihm Verpflichtung: „Ich verlange in allem – Leben, Möglichkeit des Daseins, und dann ist’s gut.“
Die Konturen der Welt
Für solches Leben sorgt der einsame Mann auf der Bühne nicht nur, wenn er mit wechselnden Stimmen und ohne falsches Pathos spricht, singt und klagt: „Alles finster, nichts, er war sich selbst ein Traum.“ Auch das Bühnenbild nach einem Konzept von Paulina Barreiro gestaltet und verändert Leonhardi als Teil des Spiels. Mit weißen Klebestreifen zeichnet er die Gipfel der Vogesen an die schwarze Wand, eine Tanne, eine Kirche, kreuzweise zaubert er ein Pfarrhaus. Im Wahn wird sich sein Lenz später verheddern, die Konturen abreißen, weil die Welt für ihn die vertraute Form verliert. Aus grauen Müllsäcken, die wie Felsen in der Ecke liegen, schüttet er braunes Granulat, das zu Erde wird, zum Lager, zum Grabhügel. Lenz treibt immer wieder dem Tod zu, doch er wird weiterleben: „Sein Dasein war ihm eine notwendige Last.“
Erde, Lager, Grabhügel: Drift in Richtung Tod.
Unser Dasein ist bereichert durch das Theater, das tapfer der Krise trotzt. Die Zuschauer sitzen mäuschenstill mit ihren Masken da und bedanken sich am Ende mit begeistertem Applaus.
Büchner im Herbst
Die nächsten Vorstellungen von „Lenz“ im Düsseldorfer Schauspielhaus, Kleines Haus, sind am 30. Oktober (ausverkauft), am 5. und 28. November sowie am 3. und 31. Dezember. Zwischen einzelnen Zuschauern oder Paaren bleiben jeweils zwei Plätze frei. Es gilt Maskenpflicht auch während der etwa 75 Minuten langen, pausenlosen Vorstellung. Infos und Tickets unter www.dhaus.de
Fotos: D’haus, Thomas Rabsch