Schauspiel Düsseldorf: Mit Heine durch die Flure geistern
Schon fünf nach acht. Man könnte jetzt auf dem Sofa liegen und Schnittchen essen. Wir zeigen Einsatz, stehen maskiert im kleinen Foyer des Schauspielhauses und warten auf den Beginn eines „theatralen Rundgangs“ mit Texten des Düsseldorfer Freiheitsdichters Heinrich Heine (1797-1856): „Lieber ein lebendiger Hund als ein toter Löwe!“ Neben geistiger Bereitschaft ist auch eine gewisse körperliche Fitness erforderlich. Denn es geht über steile Treppen und enge Gänge hinauf und hinab durch das labyrinthische Innere hinter der endlich fertigen Fassade des Pfau-Baus. Lohnt sich das? Und ob! Jan Philipp Gloger hat ein Abenteuer voller Überraschungen inszeniert, mit Poesie, Scharfsinn, Sang und Klang und Inspiration.
Der kranke Heine – Thomas Wittmann
Da Corona derzeit alles bestimmt, läuft das Premierenpublikum in drei gut bewachten Gruppen mit halbstündigem Abstand zu den einzelnen Stationen. Zum Glück macht das Spaß. Statt geradewegs ins Große Haus zu wechseln, steigt man über die nie gesehene Innentreppe nach oben und gelangt durch die Hintertür auf die Galerie, wo man sich ans Geländer setzen und kurz die Maske absetzen darf. Unten in der Halle hockt der alte, seit Jahren kranke Heine (Thomas Wittmann) auf einem Berg von Bettpolstern in seiner Pariser „Matratzengruft“ und klagt über Lähmungen, Verstopfung sowie die Erschlaffung der Schaffenskraft.
Ab in die Unterwelt!
„Viel ist nicht von mir zu erwarten“, bemerkt er – doch sein jüngeres Ich in Gestalt von Hanna Werth im schmucken Heine-Westchen eilt die Treppe hinab und singt ein Gedicht aus besseren Zeiten: „Im wunderschönen Monat Mai, als alle Knospen sprangen …“. Da ist in seinem Herzen die Liebe aufgegangen – kennt fast jeder. Das „Buch der Lieder“ gehört zu Heines Bestsellern, Robert Schumann machte daraus innige Musik. Schließlich war der Spötter Heine, der vor der deutschen Zensur nach Frankreich fliehen musste, auch ein Romantiker auf der Suche nach der blauen Blume. Und ein Connaisseur der Genüsse. „Gleichviel! Ich lebe.“ So strahlt es aus den Leuchtkästen im Foyer, und so zitiert es Joscha Baltha als Heine-Jüngling, bevor er seine 30 folgsamen Zuschauer in den Keller lockt.
Mit Joscha Baltha geht es in den Keller
Dort, in sehr schmalen Fluren unter Versorgungsleitungen, geht es unterhaltsam gruselig zu. Stimmen flüstern und hallen: „Mein Kopf ist ein zwitscherndes Vogelnest …“ (von konfiszierlichen Büchern), rätselhafte Worte stehen an der Wand („Holde Bosheit“), und an der Ecke lauert ein Gespenst, eine weiße, verschleierte Dame. Es krächzt von oben. Mit kindlichem Vergnügen durchschreitet man diese Geisterbahn und gelangt in das sogenannte Unterhaus, die Probebühne, wo Joscha Baltha die schaurige, von Heine in altdänischen Mythen entdeckte Mär vom Nacht-Raben zum Besten gibt.
Ein Tanzbär und die Cholera
Huh-huh, die Federn des furchtbaren Vogels, der dem Ritter German das Herz zerfleischte, fliegen auch im Flur herum, wo allerlei dunkles Kunst-Gestrüpp wächst. Bühnenbildnerin Franziska Bornkamm und Kostümbildnerin Marie Roth haben ihrer Fantasie recht unbefangenen Lauf gelassen. So erscheint uns tief unten im Kulissenlager ein Statist im Bärenfell, nachdem Judith Bohle als weiterer Heine von einem Gerüst herab die Ballade von Atta Troll rezitiert hat, jenem Tanzbären, der seine Ketten sprengt und in einem „Sommernachtstraum“ die Freiheit des Waldes sucht: „Sehr schlecht tanzend, doch Gesinnung tragend in der zott’gen Hochbrust …“.
Jan Maak
Nicht jedem Oberlehrer wird der spielerische Umgang mit germanistisch-historisch relevanten Inhalten gefallen, die Mehrheit des wandelnden Publikums amüsiert sich sehr. Und erfährt ganz mühelos, wie aktuell die Schriften des Heinrich „Harry“ Heine sind. Für die Augsburger Allgemeine schrieb er im April 1832 über eine Epidemie, die Paris im Griff hatte wie Covid-19 die Welt: „Ich rede von der Cholera, … die ohne Rücksicht auf Stand und Gesinnung tausendweise ihre Opfer niederwirft.“ Zu lange war man der Seuche mit „grenzenlosem Lichtsinne“ begegnet, hatte gar Maskenbälle gefeiert. Kommt uns das bekannt vor?
Ein neues Lied, ein besseres Lied
Auch Verschwörungstheorien gab es damals schon. Ein von bösen Mächten absichtlich verteiltes Gift wurde vermutet. Wir korrigieren den Sitz unserer Masken und wechseln ins Kleine Haus, wo Jan Maak mit vollem Körpereinsatz ein „Tanzpoem“ über Goethes Faust auf die Bühne bringt. Der bereits kränkelnde Heine hatte den übersprudelnden Text Ende 1840er-Jahre als Ballett-Vorlage für ein Londoner Theater geschrieben. Maak macht daraus eine irre Solo-Show, wobei er die Unterhose ruhig anbehalten könnte.
Claudia Hübbecker
Feiner ist der Auftritt von Claudia Hübbecker, die als Heine Nr. 6 in einer Postkutsche vom Bühnenhimmel gefahren kommt und Heines vielleicht brillantestes Werk zitiert, das 1844 entstandene, kritische Versepos „Deutschland. Ein Wintermärchen“. In Form einer Reisebeschreibung focht der Rebell gegen Kleingeist und Bigotterie und proklamierte „ein neues Lied, ein besseres Lied“. Er schwärmte: „Die Jungfer Europa ist verlobt mit dem schönen Geniusse der Freiheit …“, doch er wusste, dass den Spießbürgern die Nationalität näher ist als der kosmopolitische Gedanke. Nach einer flammenden Heine-Rede, die Hanna Werth auf dem Gründgensplatz durchs Megafon ruft, geht es noch einmal ins Große Haus mit Blick in den Hofgarten, wo die Show zwischen verdatterten Radlern und Passanten ausklingt. Die sechs Heines kommen herein und verbeugen sich, und das Grüppchen von Fans klatscht beseelt.
Informationen:
„Lieber ein lebendiger Hund als ein toter Löwe!“ Da höchstens 30 Leute auf einmal am dem „theatralen Rundgang“ mit Texten von Heinrich Heine teilnehmen können, sind die September-Vorstellungen schon ausverkauft. Es gibt eventuell Restkarten an der Abendkasse des Schauspielhauses. Die nächsten freien Termine sind am 6. und 11. Oktober sowie am 8. November. www.dhaus.de
Fotos: Sandra Then