Baukasten der Kunst: Das Düsseldorfer K20 erinnert an Charlotte Posenenske
Hätte Charlotte Posenenske geahnt, wie sie im fernen Jahr 2020 geehrt werden würde, hätte sie 1968 ihr Werk vielleicht nicht resigniert aufgegeben, um dann doch lieber Soziologie zu studieren. Nach entschlossenen Aktionen in der wilden Zeit der Nachkriegs-Avantgarde kam ihr das künstlerische Handeln mit einem Mal völlig wirkungslos vor. Tatsächlich wurde ihr Name weitgehend vergessen – bis Susanne Gaensheimer, Direktorin der Kunstsammlung NRW und immer auf der Suche nach weiblichen Positionen der Moderne, beschloss, die minimalistischen Konzepte der 1985 verstorbenen Charlotte Posenenske im großen Saal des K20 wie eine Offenbarung zu präsentieren.
Serienweise Kunstobjekte: Stahlblechreliefs und Vierkantrohre nach Posenenskes Plan.
Und so kommt es, dass Picassos allseits umschwärmte Bilder nur mit Geduld und Zeitfenstern im engeren Teil des Erdgeschosses zu sehen sind, während die Objekte der Charlotte Posenenske viel Luft zum Atmen um sich haben. Das hat durchaus Methode. Die wissenschaftlich und feministisch geprägte Direktorin will nicht einfach weiter den männlichen Göttern der Moderne huldigen, sondern andere Perspektiven aufzeigen – mit Hilfe von Kunstforscher(inne)n und Kurator(inn)en in aller Welt. Die Posenenske-Schau wurde von der New Yorker Dia Art Foundation organisiert und im letzten Jahr bereits in Barcelona und Luxemburg präsentiert.
Die einfache Konstruktion
Immerhin sieht jede Ausstellung anders aus – ganz im Sinn der Künstlerin, die eigentlich Mayer hieß und ihren unverwechselbaren Namen aus einer ersten Ehe mit dem Architekten Paul Posenenske hatte. Nach einem kurzen Malereistudium bei Willi Baumeister an der Stuttgarter Akademie und Engagements als Kostüm- und Bühnenbildnerin an den Bühnen von Lübeck und Darmstadt suchte sie Ende der 1950er-Jahre nach freieren Ideen. Nichts Erzählerisches sollte ihr Werk haben, keine Botschaft, keinen exklusiven Wert, sondern den Charakter von Industrieprodukten: „Die Sachen, die ich mache, sind veränderlich möglichst einfach reproduzierbar“, bemerkte sie in einem finalen Statement von 1968.
Die Künstlerin Charlotte Posenenske (1930-1985) schwebt im Film über den Dingen.
Die Abstraktion war der Weg für die Kunst ihrer Generation. Aufgewühlt von den Katastrophen des Krieges und des Holocaust brauchte der Zeitgeist eine gewisse Leere, eine Nüchternheit. Pathos war verpönt. Das galt sicher auch für die 1930 in Wiesbaden geborene Charlotte Posenenske, die, wie knapp berichtet wird, die letzten Monate der Nazi-Zeit in einem Versteck überlebte, nachdem ihr jüdischer Vater 1940 Selbstmord begangen hatte. In der Kunst, kann man sich denken, mied sie traumatische Erinnerungen. Sie konstruierte Zukunft.
Objekte wie Karosserien
Während die junge Künstlerin in den späten 1950er-Jahren noch hübsch geometrische Entwürfe für die Innenausstattung von Amtsgerichten oder Grundschulen entwarf, machte sie sich Luft mit sogenannten Spachtelarbeiten, bei denen sie die Farbe mit dem Spachtelende direkt auf das Papier hieb und abkratzte – nah am Informel. In den nächsten Jahren experimentierte sie mit der Sprühdose, klebte Collagen mit gerissenem Papier und farbigen Klebestreifen. Um reliefartige Effekte zu erreichen, faltete sie dünne Kartons und kam schließlich auf die Idee, Bleche zu verbiegen und als „Plastische Bilder“ zu lackieren.
Die Türme aus Wellpappe („Vierkantrohre Serie DW“) wurden neu nach einem Konzept von 1967 konstruiert.
So entstanden glänzend farbige Stufen oder Wellen, die an die Wand gehängt oder gestellt wurden – reihenweise, ganz nach Wunsch. Die Reliefs der Serien B und C von 1967 waren keine Unikate mehr, sie wurden maschinell gefertigt und erinnern an Maschinen- oder Karosserieteile. Voller Elan ging Posenenske weiter in den Raum mit ihren Ideen. Sie entwarf Vierkantrohre aus Blech oder Pappe, deren Module nach dem Geschmack der sogenannten „Konsumenten“ spielerisch zusammengesetzt werden konnten. Ein Kunst-Baukasten.
Allerlei Volksbelustigungen
Das muss recht amüsant gewesen sein. „Allerlei Volksbelustigungen“ registrierte die Frankfurter Rundschau im September 1967 nach einem Happening in der Galerie Loehr. „Dies alles Herzchen wird einmal dir gehören“ war der launige Titel des von Paul Maenz inszenierten Abends mit acht jungen Künstlern, darunter Charlotte Posenenske. Ein stummer, in Dauerschleife über den Häuptern der Besucher flimmernder Film aus dem Archiv des Hessischen Rundfunks zeigt viel Qualm, Wasser, huschende Figuren. Posenskes kantige Pappröhren wurden mit Kunststoffschrauben zu wandelbaren Skulpturen kombiniert, so, wie die Künstlerin selbst es in einem anderen Filmausschnitt vorführt, mitten auf einer Verkehrsinsel in Offenbach. Unscharfe Geister der Vergangenheit …
Berühren gehört zum Konzept: Rekonstruktion der „Drehflügel Serie E“.
Das Material war natürlich schnell ruiniert – untauglich zum Verkauf. Posenenske war das recht. Sie wollte keine „Einzelstücke für Einzelne machen“, sondern Prototypen für eine Massenproduktion. Nach ihrem kunstmarktkritischen Konzept ist es bis heute vollkommen okay, ihre Türme, Bögen, Spitzen aus Blech oder Pappe einfach zu rekonstruieren. Und so geschah es 2018 auch für dieses Ausstellungsprojekt. Bis auf frühe Papierarbeiten ist alles so gut wie neu, die Idee genügt als Original. Die Schwingtüren der 1967 entworfenen „Drehflügel Serie E“ darf man sogar nach Belieben öffnen, schließen, selbst verstellen. Serie E soll Charlottes Posenenskes letztes Werk als Künstlerin gewesen sein. „Work in Progress“ heißt der Untertitel der Schau, aber man spürt leider nur musealen Stillstand.
Frühwerk: Charlotte Posenenskes „Spachtelarbeiten“ (ab 1956).
Was, wann und wo?
„Charlotte Posenenske – Work in Progress“: bis 2. August im Düsseldorfer K20, Grabbeplatz 5. Geöffnet Di.-Fr. 10 bis 18 Uhr, Sa./So. 11 bis 18 Uhr. Beim Besuch ist das Tragen einer Mund-Nase-Maske obligatorisch. Samstags zwischen 16 und 18 Uhr sowie sonntags 15 bis 17 Uhr stehen „Cicerones“ für individuelle Kunstauskünfte bereit. Der Katalog erscheint im Kölner Verlag König, hat 272 Seiten und kostet 38 Euro. Hier geht es zu weiteren Informationen.
Stummes Flimmern: Filme zeigen Kunstaktionen der 1960er-Jahre. Blechobjekte an der Wand.