Ganz nah am Menschen: Fotografien von Martin Schoeller im NRW-Forum in Düsseldorf
Fotografieren? Ist keine Kunst. Jeder kann mit seinem Smartphone verblüffend gute Effekte in die Welt setzen. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb wird die Kunst der Fotografie nach wie vor hochgeschätzt. Man will genau hinsehen. Den Unterschied verstehen. Wo steckt das Geheimnis? Warum gehen die Profis nicht unter in der ordinären Bildersintflut? Okay, sie arbeiten oft mit aufwändiger, zum Teil altmodischer Technik. Aber entscheidend ist nicht das Handwerk, sondern die Idee, die Konsequenz. In der Nachbarschaft der Lindbergh-Schau und der historischen „Sichtweisen“ im Kunstpalast betört nun der quicklebendige Martin Schoeller im NRW-Forum das Publikum mit seinen Menschenbildern.
Der Fotograf vor seinen verspielteren Szenen: Martin Schoeller und die „Portraits“.
Streng nach Konzept arbeitet der 51-jährige Schoeller. Ganz wie Düsseldorfs legendäre Akademie-Professoren Bernd und Hilla Becher, die einst reihenweise Wassertürme ablichteten. Das kam dem jungen Fotodesigner in den frühen 1990er-Jahren zunächst ziemlich langweilig vor, bis er merkte, dass sich seine Wahrnehmung verändert. Nie mehr, erzählt er, hätte er seither einen Wasserturm gesehen, ohne an die Bechers zu denken. So begann er, Leute auf immer gleiche Art vor neutralem Hintergrund zu fotografieren: ohne Pose, ohne Lächeln, ganz nah, „close up“. Und er wurde berühmt damit.
Zwingender Blick: Jack Nicholson im Porträt von Martin Schoeller.
Prominente und Geächtete
So einfach war die Karriere natürlich nicht. Martin Schoeller, in München geboren, in Frankfurt aufgewachsen, seit 1993 Wahl-New-Yorker, machte erst einmal den Assistenten für die amerikanische Porträt-Fotografin Annie Leibovitz – und ließ es bescheiden angehen. 1998, behauptet er, hätte er gerade mal drei Hochzeiten und ein Stillleben fotografieren dürfen. Die Sache mit der Nahfotografie konnte er zunächst nur unter Freunden ausprobiert, um herauszufinden: „Was kann man wirklich in einem Gesicht sehen?“ Dann bekam er die Chance, die Schauspielerin Vanessa Redgrave auf seine Art zu porträtieren. Von da an ging’s bergauf: „1999 hatte ich 127 Jobs.“
Ernst geradeaus gucken auch die Hollywood-Stars Denzel Washington und Meryl Streep.
Im Business geht es natürlich auch um Kompromisse. Wenn Schoeller, ein netter Kerl mit kecken Dreadlocks, im Auftrag von amerikanischen Hochglanz-Magazinen arbeitet, richtet er sich durchaus nach Kundenwünschen. Hier im NRW-Forum aber zeigt er nur seine Überzeugungstaten und präsentiert Prominente genau so groß wie Obdachlose und Geächtete.
Ausgetrocknete Muskelprotze: die „Female Bodybuilders“ von Martin Schoeller.
Der ganz genaue Blick
Reihenweise saßen Stars und Politiker vor seiner Kamera. Zuerst gaben ihm die Pressesprecher nur zehn Minuten Zeit für eine „Close Up“-Sitzung, später waren es dann zwei Stunden. Das Schema blieb gleich. Still sitzen, ernst geradeaus gucken. Jack Nicholson, der alte Hollywood-Kasper, kam 2002 mit Clownsnase, setzte sie dann aber artig ab und starrte ohne Maske die Kamera an – und alle Betrachter sind gebannt. Schoellers Methode verschafft den Abgebildeten immer Respekt. Geschönt ist da allerdings nichts in den bunten Reihen zwischen Ex-US-Präsident Barack Obama und Ex-Westernheld Clint Eastwood. Tiefe und feine Falten, Bartstoppeln, schütteres Haar, ein Pflaster auf der Nase des Fußballstars – nichts bleibt verborgen. Auch geschminkte Frauen verraten mehr, als sie vermutlich wollten. Meryl Streeps Lippenstift ist an den Rändern leicht verlaufen. Man sieht sogar den Kleber an den nicht ganz gerade angeklebten Kunstwimpern der perfekt gelifteten Diva Cher. Kanzlerin Angela Merkel, 2010 noch ziemlich glatt im Gesicht, hatte nur fünf Minuten Zeit und gibt auf dem Bild leider nichts preis.
Prominente mögen als Lockvögel wirken – unbekannte Menschen können manchmal interessanter sein. Die Bodybuilderinnen zum Beispiel, von denen Schoeller seit 2003 fasziniert ist. Ungeachtet ihrer Gesundheit und aller weiblichen Schönheitsideale trainieren sich diese Besessenen gewaltige Muskeln an, die sie vor Wettbewerben durch Hungern und Dursten noch hervortreten lassen. Auf Schoellers Halbkörper-Fotos vor weißer Studiowand sieht man nicht nur die seltsam skulpturalen Körper, sondern auch die Verletzlichkeit in den ausgemergelten Gesichtern. Die starke Fannie, verrät der Fotograf, starb kurz danach an Leberversagen. Man sieht betroffen in ihre schönen blutunterlaufenen Augen.
Unheimliche Ähnlichkeit: Zwillinge und Drillinge in der Serie „Identical“.
Gesichter unter viel Farbe
Viel zarter sind die Transfrauen, die in der Stadt der Filmträume auf der Straße ihre Liebesdienste anbieten. Schoeller würdigt diese durch Gewalt und Drogensucht gefährdeten, oft obdachlosen Geschöpfe mit einer Studio-Porträtserie – und gibt ihnen dadurch einen Platz in der Gesellschaft, die sie verachtet. Einen gewissen Rang haben sich hingegen die extrovertierten Drag Queens erkämpft. Längst gehört der schillernde Auftritt von Männern mit großem Make-Up und karnevalesker Frauenverkleidung zum allgemein goutierten Showgeschäft. Entsprechend selbstbewusst glänzen in Schoellers Studio solche Kunstfiguren wie Adriana Sparkle mit dem lila gefärbten Bart und Karma Sutra mit dem aufgeblasenen Kopfputz.
Als Kontrast präsentieren Schoeller und seine Hamburger Kuratorin Anke Degenhard eine Collage von Porträts brasilianischer Ureinwohnerinnen. Die Frauen der Kayapo im Amazonasgebiet versuchen nicht, Augen und Lippen zu betonen. Sie bemalen ihre Gesichter vor festlichen Ritualen ganz individuell mit roten und schwarzen Feldern und Streifen. Dabei geht es, weiß der Fotograf, um den Platz in der Gemeinschaft, die Rolle in der Zeremonie und einen persönlichen Stil.
Rituelle Pracht: Frauen der Kayapo mit imponierenden Bemalungen.
Schau mir in die Augen
Unheimliche Ähnlichkeiten offenbart das Projekt „Identical“ mit Zwillingspärchen und männlichen Drillingen. Zum Verwechseln. Nur durch Schoellers ruhige und klare Vorgehensweise kann man winzige Unterschiede bemerken – den Abstand der Augen zum Beispiel. Aber der Fotograf kann auch nach innen sehen. In einer hoch engagierten Serie interviewte er Menschen, die (anders als der Mörder in Peter Lindberghs Todeszellen-Projekt) erwiesenermaßen unschuldig zum Tode verurteilt worden waren. Schoeller zeigt in kurzen Video-Sequenzen ihre subtil bewegten Mienen und lässt sie aus dem Off zu Wort kommen: „Yeah, I still have nightmares“, der inzwischen freigesprochene Gary träumt immer wieder, dass er zum elektrischen Stuhl geführt wird.
Keine Angst, man muss nicht bedrückt nach Hause gehen. Das letzte Kapitel der Schau hat Humor – und zeigt, dass Schoeller kein Sturkopf ist, wenn es um seine Konzepte geht. Er kann seine Menschen auch mal kurios in Szene setzen und, wie er es nennt, spielerischer vorgehen. Da sieht man allerlei Überraschendes: Angelina Jolie vampirisch-mondän mit Blut am Mundwinkel, Robert de Niro mit der Chipstüte in der U-Bahn, George Clooney und Brad Pitt bei einem surrealen Krocket-Spiel. Der deutsche Theaterstar Lars Eidinger posiert nackt mit einer Riesenschlange, und Kultregisseur Quentin Tarantino, bekannt für seine Gewaltszenen, hockt in einer aufgerissenen Zwangsjacke zwischen flatternden weißen Friedenstauben auf einer Krankenbahre. Wer das zu albern findet, kehrt zurück zu den ruhigen Schoeller-Konzepten und kann sich sogar selbst im Schoeller-Stil fotografieren lassen. Spaß macht das auf jeden Fall, und am Ende hat man vielleicht etwas gelernt über den Wert der Idee in der Fotografie.
Close Up (von links): Tennisstar Serena Williams, Fußballstar Zinédine Zidane und Diva Cher.
Was, wann und wo?
„Martin Schoeller“: bis 17. Mai 2020 im NRW-Forum Düsseldorf, Ehrenhof 2. Geöffnet Di.-Do. 11 bis 18 Uhr, Fr. 11 bis 21 Uhr, Sa. 10 bis 21 Uhr, So. 10 bis 18 Uhr. Ein Katalogbuch ist im Steidl Verlag erschienen und kostet 28 Euro. Hinweis: In der Essener Zollverein zeigt Martin Schoeller bis 26. April täglich 11 bis 17 Uhr seine viel beachtete Serie „Survivors“ mit Close-Up-Porträts von 75 Überlebenden des Holocaust. Weitere Fotoereignisse sind ab 13. März im Rahmen des neu organisierten Festivals Düsseldorf Photo plus zu erwarten. www.nrw-forum.de