Seliger Soundtrack: Jubiläumsrevue am Schauspielhaus Düsseldorf
Welche Lieder singt die Erinnerung? Was klingt da in unseren Köpfen? Jeder Mensch hat seinen eigenen inneren Soundtrack – vom Lalelu der Mutter bis zum Chanson mit dem Akkordeon. Aber es gibt auch Songs, die einfach typisch sind für eine Epoche und die wir alle kennen. Yeah, folks! Zum 50jährigen Bestehen des Düsseldorfer Schauspielhauses am Gründgens-Platz präsentieren mehrfach begabte Schauspieler unter Leitung ihres Kollegen André Kaczmarczyk und des fabelhaften Musikers Matt Johan Leenders eine Hitparade, die das Publikum begeistert und beseelt: „I build my time“, ich baue meine Zeit – das ist der literarisch-zarte Titel nach einem Gedicht des Dadaisten Kurt Schwitters.
Mit Gesang und Tanz durch die Jahrzehnte: (v.) Sebastian Tessenow, Lou Strenger und Marianne Hoika.
Eins liefert diese Herzensshow im Großen Haus nicht: eine musikalische Chronik des Theaters. Ungehört bleibt, was da früher mal klang von Brendan Brehans „Richards Korkbein“ (1975) über Offenbachs „Pariser Leben“ (1979) bis zu Robert Wilsons „Black Rider“ mit Musik von Tom Waits (2009). Das war vor der Zeit des heutigen Ensembles und hätte keinen rechten Bezug. Kaczmarczyk lässt zwar Stücke-Titel aus dem Off aufzählen und Tonfetzen von alten Bändern (die er tatsächlich aus dem Müllcontainer fischte) einspielen, aber das wirkt, wie es nun mal ist – verflogen. Und auch die Zeitzeugin dieser Revue, Marianne Hoika, die seit 1969 in Düsseldorf engagiert war, ist für die Wehmut des Verschwindens zuständig.
Wehmut des Verschwindens: Marianne Hoika.
Das Lied vom Wirtschaftswunder
Sie hat das erste Wort, die ernste ältere Dame, die in der Glitzerjacke an der Rampe steht und in den Saal blickt: „Vogel-Augen-Ahorn“ sagt sie mit ihrer vertraut rauen Stimme. Das ist kein Gedicht, sondern die gemusterte Holzart, mit der Bernhard Pfau, der Architekt, seinen Zuschauerraum auskleiden ließ. Eine Art Schale, die, wie es Dramaturg Frederik Tidén formuliert, „in fünfzig Jahren so viel Schreie, Seufzer, Bekenntnisse, Schluchzen, Jubel, Gähnen, Gelächter und Applaus aufgefangen hat“. Genug davon. Ein paar Szenenfotos erscheinen wie Traumbilder über der Brücke, die Bühnenbildner Ansgar Prüwer gebaut hat. Aber ein kleiner Junge schnippt mit den Fingern, und Bilder der Zeit werden zur Kulisse eines hinreißenden Konzerts.
Rückblick nach Noten: (vl.) der künstlerische Leiter André Kaczmarczyk, Hanna Werth und Sebastian Tessenow.
Das geht weiter zurück als 50 Jahre, zurück in die 1940er, als die neuen Theaterleute von 1970 geboren wurden. Claudia Hübbecker schiebt einen historischen Kinderwagen durch fotografische Ruinen und singt das trotzig-traurige Lied von Lale Andersen: „Es geht alles vorüber“. Und schon sind wir mitten in der Verdrängungsmusik der späten 1950er, hören das kabarettistische „Lied vom Wirtschaftswunder“ und tanzen im Geiste den Konjunktur-Cha-Cha des Hazy Osterwald Sextetts. Auf der Bühne tanzen sie wirklich – und singen zugleich, dass es eine Lust ist. Die Hübbecker als Caterina Valente mit dem Belafonte-Hit „Wo meine Sonne scheint“ im Wechsel-Duett mit Rainer Philippi als Freddy Quinn „Unter fremden Sternen“. Herrlich!
Degenhardt und die Disco-Fantasie
Und dann kommt das Wilde ins Spiel: „Roll over Beethoven“ von Chuck Berry, ein bisschen Beatles, Sonny and Cher. The Beat goes on. Und der Tanz. Und der Protest. Zur Eröffnung des Schauspielhauses gab’s zeitgemäßen Krawall gegen das bürgerliche Establishment. Reinhard Mey machte sich 1972 über den Zeitgeist lustig mit seinem Song von „Annabelle, ach Annabelle, du bist so herrlich unkonventionell“. Sebastian Tessenow bringt’s zur allgemeinen Erheiterung. Dann schwelgt man einfach in der Musik der 1970er-Jahre – von Deep Purple bis Abba. Glitzernde Disco-Fantasie mit der Dancing Queen! Witzige Kostüme. Aber das Ensemble kennt auch die spitzfindigen und nachdenklichen Songs der deutschen Querdenker, bringt gleich zu Anfang Franz Josef Degenhardts „Befragung eines Kriegsdienstverweigerers“ oder Hanns Dieter Hüschs köstliches „An-Liegen“: „Es liegt an der Tugend, es liegt an den Falten ….“. Nur an uns selber liegt es nicht.
Rinn in die 70er und 80er: Abba mit viel Gefühl. (Vl.) André Kaczmarczyk, Lou Strenger, Sebastian Tessenow und Hanna Werth.
Von Kraftwerk und den Toten Hosen (Düsseldorfs Coolste) treibt’s weiter in die 1980er. Hanna Werth und André Kaczmarczyk singen von „Bette Davis Eyes“, und Lou Strenger mit ihrer großen Stimme erinnert an Queen und Freddy Mercury: „Who Wants to Live Forever“. Wer will schon ewig leben – na, wir! Und am liebsten mitsingen. Es gibt so viele Songs, an die Gefühle gekoppelt sind, ganze hundert stehen auf der Liste im Programmheft. Schafft man natürlich nicht in zwei Stunden, weshalb das Team mit Leenders’ Profi-Band ein paar Potpourris arrangiert hat: Der Disco-Sound der 1990er – „Rhyhthm of the Night“. Die gute Laune schäumt über und wird dann unterbrochen von Rio Reisers herben „Träumen“: „Die Zeit vergeht, und so viel bleibt im Straßenstaub.“
„Weißt du, wie es war?“
Ach ja, die deutschen Lyrics haben ihr eigenes Pathos, das Kaczmarczyk feiern lässt mit einer besonderen Rezitation zusammengesetzter Schlagertexte: Liebe ist alles, irgendwas bleibt, dieser Weg wird kein leichter sein, ich will immer wieder dieses Fieber spür’n – und so weiter. Äußerst amüsant. Zum Schluss wird’s nochmal ganz ernsthaft nostalgisch. Rainer Philippi singt Hermann van Veens Trennungslied von 1973: „Weißt du, wie es war …“, und man möchte ein bisschen weinen. Das Kind (Feras Al-Husseini und Jakob Ibrahim in wechselnder Besetzung) schmettert „I Love Tomorrow“, denn das Morgen gehört einer anderen Generation.
Und dann wollen wir noch ein bisschen tanzen…
Und dann bringt Marianne Hoika noch eine brüchige, zutiefst rührende Version von einem Song, den Marianne Faithful auf ihrem 2018 erschienenen Alters-Album „Negative Capability“ sang: „We’re born to die, no one to blame. We’re born to love, we’re all the same …“ Wir sind geboren um zu sterben, niemand ist schuld. Wir sind geboren um zu lieben, wir sind alle gleich. Und wollen noch ein bisschen tanzen nach diesem wunderbaren Abend.
Noch mehr Theater
Tankred Dorsts „Parzival (to go)“ in der turbulent jugendlichen Inszenierung mit vielen Videos von Robert Lehniger war zu Gast in der Evangelischen Kreuzkirche an der Collenbachstraße und wurde dort begeistert begrüßt. Die mobile Produktion ist demnächst im Kleinen Haus (17. Februar 2020), in der katholischen Kirche Derendorf Pempelfort (28. Februar) und im Lokschuppen Hochdahl (4. März) und kann von Veranstaltern eingeladen werden. Informationen und Tickets: www.dhaus.de
Fotos: D’haus, Thomas Rabsch