Arbeit ist Kunst: Zum Tod von Anatol Herzfeld
Erst kürzlich, zu Ostern, sind wir wieder einmal durch die verwunschene Auenlandschaft des Museums Insel Hombroich gewandert. Und wir waren ein bisschen wehmütig, weil die Schöpfer dieser Oase schon seit Jahren nicht mehr unter den Lebenden sind: der Gründer, Sammler und Mäzen Karl-Heinz Müller, der Bildhauer und Baumeister Erwin Heerich, der ungestüme Maler Norbert Tadeusz. Und nun ist auch Anatol Herzfeld gestorben, der markante Künstler mit dem Schnauzbart, der sich in jenen Auen ein Holzhaus mit Freiluft-Atelier eingerichtet hatte und sich dort so gutmütig von Spaziergängern besuchen und beobachten ließ.
Mit einer gelben Kreuzblume sind Anatols Figuren oft geschmückt.
Es war eine eigenartige Atmosphäre am Ostersonntag. Wir hatten schon ein seltsames Gefühl von Abschied. Das Wetter war frühlingshaft schön, doch Anatol war nicht da, das Atelier abgeschlossen, alles still. Seine rostigen Figuren hoben sich wie ein Geisterballett vom frischen Grün der Bäume ab. Schrottabfälle lagen am Boden. Hier und da blühte die gelbe Stahlblume, die so etwas wie ein Erkennungszeichen für ihn war. Er nannte sie Kreuzblume, und ihre Farbe erinnert an die Rapsfelder von Ostpreußen, wo Anatol seine Kindheit verbracht hat. Ungerührt von Jahreszeiten und Ereignissen standen die stählernen Stühle seiner Tafelrunde („Das Parlament“, 1991) auf der Wiese hinter dem Häuschen. Ein rot beschriftetes Schild an der Wand des Häuschens rührte uns besonders: „Kunst ist Seelsorge“.
Tafelrunde nach Anatols Art: die Arbeit „Parlament“ von 1991.
Ob Anatol ein frommer Christ war, weiß ich nicht. Geboren 1931 im ostpreußischen Insterburg als unehelicher Sohn einer sehr jungen Mutter, wuchs er jedenfalls in einer bibelfesten Pflegefamilie auf. Gegen Ende des Krieges floh er mit dieser Familie nach Westdeutschland, machte zunächst eine Lehre als Schmied und wurde dann 1953, der Vernunft folgend, Verkehrspolizist. Auch viel später, als anerkannter Künstler, blieb er dem Beamtenstatus treu und zog als pädagogisch versierter Puppenspieler von der Polizei mit dem „Verkehrskasper“ durch die Schulen.
Die kuriose Mischung der Identitäten irritierte Anatol, der eigentlich Karl-Heinz hieß, kein bisschen, sie inspirierte ihn. Im Magazin „pardon“ wurde das 1976 so zusammengefasst: „Anatol ist gelernter Hufschmied; deshalb trägt er einen Hufnagel in seinem Hut. Wenn er nach dem Beruf gefragt wird, gibt er folgendes zu Protokoll: Bildhauer, Maler, Zeichner, Puppenspieler, Schmied, Geschichtenerzähler, Angler, Karikaturist, Haudegen, Meisterschüler durch Beuys, jetzt Meister, Mitbegründer der ‚Akademie Oldenburg‘, Kneipenbruder, CDU-Mitglied, Polizeibeamter.“
Einige Figuren im Garten von Anatols Atelier auf der Museumsinsel Hombroich.
Berühmt wurde er jedoch als bärenhafter Mitstreiter des rheinischen Kunstschamanen Joseph Beuys, den er über Künstlerfreunde kennengelernt hatte und bei dem er ab 1964 elf Semester lang studierte. Dabei ging es nicht nur um Bildhauerei, sondern auch um Aktion und Präsenz in der Öffentlichkeit. Anatol baute Requisiten für die Auftritte seines Meisters, und er spielte mit. 1968 zum Beispiel stellte er im Szenelokal Cream Cheese einen Stahltisch mit Lichtsignalen für eine Performance auf, 1971 schlüpfte er vor der Kunsthalle aus einem Riesenkokon. Und – unvergessliches Motiv – er war es, der Joseph Beuys nach dessen Entlassung durch den damaligen NRW-Wissenschaftsminister Johannes Rau am 20. Oktober 1973 in einem Einbaum über den Rhein ruderte. Aus einem 30 Meter langen Pappelstamm hatte Anatol das Kunstboot mit eigenen Händen gehauen und geschnitzt. „Das blaue Wunder“ ging nicht unter, sondern sorgte für den vielleicht legendärsten Auftritt des unvergesslichen Beuys. Wie ein alter Häuptling, in eine Decke gehüllt, saß der Professor vorn im Einbaum, Anatol mit dem Paddel und Kollegen gleich dahinter. Die Fotos gingen um die Welt, und Beuys begründete seine einzigartige Karriere.
Nach der wilden Beuys-Zeit und einem dreijährigen Lehrauftrag an der Akademie wurde es stiller um Anatol. Aber auch das passte ihm durchaus. Er zog sich in den 1980er-Jahren in die Neusser Erft-Auen zurück, wo im Laufe der folgenden Jahre um ihn herum das Projekt Museum Insel Hombroich wuchs. Ein Schicksalsschlag hatte ihn und seine Frau Erdmute getroffen, ihr einziger Sohn Heico war 1976 als motorradfahrender Teenager tödlich verunglückt – bei einem dieser furchtbaren Unfälle, deren Vermeidung immer das Ziel der Programme des Verkehrspädagogen Anatol gewesen war.
„Kunst ist Seelsorge“: Bekenntnis auf einem Schild an der Wand.
Der Künstler Anatol verarbeitete seine Trauer auf eigene Art: Er signierte in den folgenden Jahren seine Arbeiten mit „Anatol-Heico“. Dabei blieb er offen für andere Menschen, bis ihn die Kräfte verließen. Unermüdlich zeigte und erklärte er Hombroich-Besuchern seine Kunst, sein Leben, malte auch mal spontan für ein Kind. Er hielt nichts von der Geheimnistuerei, die typisch ist für viele seiner Kollegen: „Bei mir darf jeder Mensch dabei sein, ja, sogar anfassen. Wer gut zeichnen kann, kann und darf auch Zeichen geben. Arbeit ist Kunst, Kunst ist Arbeit.“ Jetzt bleibt nur noch die Erinnerung an Anatols „Arbeitszeit“ in seinem Kunst-Garten, der laut Testament in den Besitz des Museums Hombroich übergehen wird.