Die Kunst des Schmerzes: Marina Abramović in Bonn
Die Frau ist verrückt. Das steht fest für uns, die wir im Leben nach Wohlbefinden streben. Marina Abramović setzt sich körperlichen Schmerzen und seelischen Qualen aus und nennt das Kunst. Sie zelebriert ihren Masochismus in aller Öffentlichkeit. Dafür wird sie von Kuratoren und Vernissage-Plauderern in den renommiertesten Galerien der Welt vergöttert. Warum nur? Vielleicht, weil es ihr gelingt, das Dunkle und Wilde, das Gefühl von Wut, Angst und Gefahr vor unseren Augen in ein Gezähmtes zu verwandeln, es gewissermaßen unschädlich zu machen. Das versteht, wer sich auf die Retrospektive in der Bonner Bundeskunsthalle einlässt: „The Cleaner“ (Tatortreiniger) heißt die furiose Schau und ist kein Familienprogramm.
Malen kann sie auch: expressives Selbstporträt von 1965.
Anders als in der Malerei entfernt sich ein Performance-Künstler nie von seinem Werk. Es existiert ja nur im besessenen Schöpfer. Marina Abramović erscheint ungezählte Male auf Videos und Fotos in dieser aufwändig, mit zahlreichen Requisiten inszenierten Ausstellung. Sie ist eine serbische Schönheit mit pechschwarzem Haar und herben Zügen, die – dank einer verschwiegenen Beauty-Medizin – im Alter von 71 Jahren glatter wirken als je zuvor. Unheimlich glatt. Mit dem Glamour eines Filmstars erscheint diese Marina Abramović ihrem Publikum. Das genügt manchmal schon. „The Artist is Present“, die Künstlerin ist anwesend, hieß es 2010 im New Yorker Museum of Modern Art, wo sie im bodenlangen Gewand insgesamt 736 Stunden unbeweglich an einem kleinen Tisch saß.
Präsente Erinnerung: Videos und Requisiten vergangener Performances.
Wer wegsieht, hat verloren
Freiwillige mit guten Nerven konnten gegenüber Platz nehmen und der erstarrten Lady in die Augen sehen. Die armen Amateure sollen zum Teil recht emotional reagiert haben, und das erinnert irgendwie an das alte Kinderspiel: Wer zuerst wegguckt oder zuckt, der hat verloren. Marina Abramović gewinnt immer. Sie macht ihr Spiel mit so mancher alten Qual. Viele Frauen ihrer Generation erinnern sich, dass sie als Mädchen von schroffen Müttern so straff frisiert wurden, dass es wehtat. Marina die Unerbittliche hat das schon in den 1970er-Jahren in einer Performance verwertet, in der sie ihr herrliches Haar so lange mit Metallzinken bürstete und kämmte, bis es beschädigt und die Kopfhaut aufgekratzt war: „Die Kunst muss schön sein, die Künstlerin muss schön sein“, hieß der zynische Titel.
Schreie und Blicke: In vielen Projektionen kommt die Künstlerin dem Publikum nahe.
Aber das war eine Kleinigkeit gegen die 1975 zum ersten Mal durchlittene Performance „Lips of Thomas“ – eine Selbstgeißelung der extremen Art, benannt nach dem Kollegen Thomas Lips, mit dem sie eine kurze Affäre hatte. Und die Show geht so: Die nackte Künstlerin trinkt Honig und Wein, zerbricht ihr Glas, dass die Hand blutet, peitscht sich aus, ritzt sich mit einer Rasierklinge ein Pentagramm in den Bauch und legt sich dann mit bloßem Körper auf ein Eiskreuz unter einen Heizstrahler, der das Kreuz langsam schmelzen und die Wunden heftiger bluten lässt. Komplett zerschunden, behält die Künstlerin doch stets die Kontrolle. Sie macht den Plan.
Qual und Erlösung
Kontrolle: Das ist das Stichwort zu den lebenslangen Grenzerfahrungen der Marina Abramović. Man hört ihre Schreie durch den ganzen Saal, doch sie bleibt immer die Königin des Schmerz-Theaters. Anders als in ihrer Kindheit, als sie mit dem Arm in die neue Walzen-Waschmaschine ihrer Mutter geriet, sich den Arm quetschte und dafür noch geohrfeigt wurde. Die Mutter fackelte nicht lange. Sie war Partisanin im Zweiten Weltkrieg gewesen und arbeitete unter Tito als Chefin des Revolutionsmuseums. Der Vater gehörte zur Staatssicherheit. Beide Eltern waren so etwas wie Profi-Jugoslawen, entschlossene Typen. Ihre kleine Marina, 1946 in Belgrad geboren, lebte die ersten Jahre allerdings bei ihrer Großmutter, einer frommen orthodoxen Christin, die ihr ein diffuses Gefühl gibt für Schmerz und Erlösung.
Strammstehen für die Re-Performance: Wie Ulay und Marina Abramović 1977 stehen heute nackte Statisten im Durchgang.
Obgleich den Eltern nur die kommunistische Idee heilig war, förderten sie doch Marinas Talent und ermöglichten ihr ein Studium an der Belgrader Akademie. Tatsächlich machte sie ihr Diplom und malte in der ersten Zeit erstaunlich gute Bilder. 1965 entsteht ein expressives Selbstporträt, und aus dem garstigen Thema „Truck Accidents“ (LKW-Unfälle) zaubert die junge Frau fast abstrakte Kompositionen. Eine andere Serie widmet sich auf kühl-konstruktive Art dem Thema „Wolken“.
Bis das Blut spritzt
Sie hätte weiter malen können, aber die Zeiten waren nicht so. Es wurden Experimente gemacht, Studentin Marina ließ sich mit Klebeband auf eine Bank im Kulturzentrum fesseln und begriff: Körperliche Erfahrungen können Kunst sein. Aus der Koje nebenan hört man ein Klopfen und Stöhnen. Das ist der „Rhythm 10“ von Marina Abramovićs erster öffentlicher Performance 1973 in Edinburgh, als sie sich mit wechselnden Messern so schnell zwischen ihre gespreizten Finger hackte, dass sie sich immer wieder schnitt und das Blut spritzte.
Paar-Dramen
Von nun an gehörte sie zum internationalen Performance-Zirkus, alsbald unterstützt von dem deutschen Künstler Frank Uwe Laysiepen alias Ulay, den sie 1975 in Amsterdam kennengelernt hatte und der die Wirkung ihrer Ideen verdoppelte. Gemeinsam zogen sie durch die Welt und ersannen Paar-Dramen, die im Video bis heute erschreckend präsent sind. Um den Bonner Besucher herum küssen sich Ulay und Marina mit verstopften Nasen, bis sie schier ersticken, sie ohrfeigen sich, rempeln sich an und brüllen wie die Tiere – bis einer aufgibt. Aber das sieht man im Film nicht, da wiederholt sich alles ungebrochen, mit hypnotischer Wirkung auf das Publikum. Und Ulay spannt immer wieder den Bogen, richtet den vergifteten Pfeil auf Marinas Herz und hält ihn mühsam zurück: „Rest Energy“, wie es heißt.
Der letzte Liebesdienst
Das konnte nicht ewig gut gehen. 1988, nachdem sie 90 Tage lang über die Chinesische Mauer aufeinander zugelaufen waren („The Lovers“), platzte die Schmerzensliebe. Von ihm spricht man nicht mehr so oft. Sie wurde immer berühmter, zog nach Paris, später nach New York. Bewundert, umstritten, auf keinen Fall ignoriert. Nachdem 1997 bei der Biennale in Venedig einen preisgekrönten „Balkan Baroque“ inszenierte und unter Gesang tagelang an einem Berg blutiger Rinderknochen herumschrubbte, entwickelte Marina Abramović elegantere Performances, bei denen es eher um das Durchhalten geht. Zwölf Tage verbrachte sie 2002 im Schaufenster einer New Yorker Galerie in drei kleinen, mit schönen Holzmöbeln eingerichteten Räumen – ohne zu essen, zu sprechen, auszubrechen.
Die Leitern, die hinaufführten zum „House with the Ocean View“, hatten Sprossen aus glänzend polierten Tranchiermessern. Nur Wassertrinken hatte sich die Künstlerin erlaubt. Vor aller Augen lebte sie dahin, döste, lief umher, pinkelte gelegentlich und duschte oft. Und heute starrt man fasziniert in der Ausstellung auf die Bühne dieser Performance, die vom 12. bis 24. Juni noch einmal von der unerschütterlichen Diva benutzt werden soll.
Und wer macht mit?
Bis dahin kann man sich täglich ein kleines Abramović-Prickeln holen. Besucher sind eingeladen, barfuß in Schuhe aus unbeweglichen Mineralbrocken zu schlüpfen oder alle Habseligkeiten abzugeben, um, an einem langen Tisch sitzend, Linsen und Reiskörner zu sortieren und sich so in Achtsamkeit zu üben. Derweil sorgen Statisten für Live-Atmosphäre durch „Re-Performances“. So stehen täglich zwei Nackte in einem engen Eingang, so wie Ulay und Marina es 1977 in Bologna taten. Wer sich traut, zwängt zwischen ihnen durch und riskiert die Berührung. Besonders Frauen lassen sich, wie man an einem ganz normalen Ausstellungstag sieht, auf solche Herausforderungen ein. Verrückt, so sind wir eben.
Wo? Wann? Wie teuer?
„Marina Abramović – The Cleaner“: bis 12. August in der Bundeskunsthalle Bonn, Friedrich-Ebert-Allee 4. Di. und Mi. 10 bis 21 Uhr, Do.-So. 10 bis 19 Uhr. Eintritt: 10 Euro. Täglich Re-Performances mit Statisten. Katalog: 32 Euro. www.bundeskunsthalle.de